Das Elend um die Therapie depressiver Patienten

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  Von Gastautor: Jürgen Karres

Es sieht traurig aus um die Depression in diesem Land. Nein, ich meine nicht, dass Depressionen an sich etwas Trauriges und manchmal furchtbar Verzweifelndes sein können, ich meine die Art und Weise, wie bei uns von „sogenannten“ Experten mit an Depressionen leidenden Menschen umgegangen wird.

Wer heutzutage Lebensprobleme entwickelt – Anlässe dazu gibt es in unserer überkomplexen und schnelllebigen Zeit nur allzu viele! – und in seiner misslichen Lage Hilfe bei einem Arzt sucht, geht fast immer mit einer Depressionsdiagnose und oft auch einem Rezept für Antidepressiva aus der Praxis. Das übliche Schnellschussverfahren, egal ob bei der Hausärztin oder beim Facharzt/Psychiater, hat dabei einen akademischen Hintergrund: Die universitäre Medizin des 21. Jahrhunderts erklärt Depressionen vornehmlich als Funktionsstörung im Gehirn! Die Neurotransmitter seien verändert, wird gesagt, vornehmlich von einem Mangel an Serotonin ist die Rede. Medikamente sollen dann das Gleichgewicht im Gehirn wieder herstellen.

Diese als „wissenschaftlich“ ausgegebene Theorie ist so simpel wie falsch, die Serotoninmangel-Hypothese längst widerlegt! Dennoch hat sie Fuß gefasst bei den Fachleuten, vor allem bei den initial so wichtigen HausärztInnen. Aber auch in der breiten Öffentlichkeit. Beständig wird der Laie nicht nur in Apotheken-Blättern, sondern auch in regionalen und überregionalen Zeitungen, in TV-Beiträgen und anderswo über Depressionen als körperliche Krankheit informiert. Das Tragische daran ist, dies war ursprünglich gut gemeint und sollte die psychischen Krankheiten aus ihrer Stigmatisierung herausführen. Und in der Tat sind Depressionen und andere psychische Störungen – wenn ihnen denn Krankheitswert zukommt! – nicht weniger anzuerkennen, als körperliche Erkrankungen.

Und dennoch sind sie etwas ganz anderes! Fast immer stehen sie nämlich, zumindest was Depressionen betrifft, in Verbindung mit einem psychosozialen Geschehen, d.h. ihnen gehen oft einschneidende Lebenserfahrungen (beispielsweise Kindheitstraumen, schwere Selbst-wertverletzungen, Verluste, demütigende Arbeitsbedingungen, Einsamkeit, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit etc.) voraus. Genau dieser Zusammenhang aber wird heute von einer ein-seitig biologisch orientierten Psychiatrie vehement bestritten! Depressionen seien „Krank-heiten, wie andere Krankheiten auch“ wird von führenden Vertretern des Faches wie ein Mantra wiederholt und heruntergebetet. Und „Krankheit“ meint dann eben, siehe oben, die (vermeintlich) körperliche Verwurzelung.

Das Gehirn, laut dieser Theorie entscheidendes Steuerungsorgan und der immer wieder genannte (angebliche) Ursprungsort der Malaise, ist aber in Wirklichkeit keine abgeschnittene „Insel“. Sondern, wenn man diese Metapher denn verwenden will, über hunderte von Brücken mit der Außenwelt verbunden. Ein Ort also, in den Einflüsse und Signale aus der Umgebung einströmen, Erfahrungen positiver wie negativer Art. Welche dann das Gehirn verändern (was durch den Fachbegriff „Neuroplastizität“ bezeichnet wird). Soziale Erfahrungen, beispielsweise aus der uns immer mehr erschöpfenden Arbeitswelt, setzen sich mithin in psychische Prozesse um und schlagen sich dann gegebenenfalls körperlich nieder, auch im Gehirn. Aber das ist dann nicht die Ursache der folgenden Depressionen, sondern allenfalls eine Wechselwirkung [1].

Wie also kann man helfen, wie soll man helfen? Der Hauptweg der Behandlung sind heute Medikamente, vornehmlich die sogenannten Antidepressiva. Immer wieder wird ärztlicherseits betont, dass sie ungefährlich seien und nicht abhängig machen. Auch das stimmt so nicht! Aber die medikamentöse Behandlung der Depressionen – dieser Sammelbegriff steht übrigens für eine überbreite Palette von höchst harmlosen bis hin zu lebensgefährlichen Erscheinungsformen, wodurch dann völlig falsche epidemiologische Zahlen über eine angebliche „Volkskrankheit“ resultieren! – ist die natürliche Antwort auf die oben kurz skizzierte Theorie der Depression. Liegt das Problem „in meinem Kopf“, bei diversen Übertragerstoffen an den Synapsen etc., macht es natürlich keinen Sinn nach Ursachen in seinem Lebensvollzug, evtl. auch in seiner Kindheit zu suchen. Die Chemie müsse wieder in Ordnung gebracht werden, lautet dann die (falsche) Botschaft!

 Und damit schließt sich der Kreis ins Unheil. Denn der betroffene Mensch, der dem Narrativ seiner Ärzte, also der biologisch-chemischen Erzählung Glauben schenkt – was anderes soll er als Laie tun? -, setzt sich dann eben nicht mit seinen Lebenszusammenhängen auseinander, dem Bereich, wo die Lösung liegen könnte, sondern vertraut sich einer medikamentösen Strategie an. Steigt vielleicht aufgrund dieses Irrtums seit Jahren die Zahl an registrierten Depressionen? Wird nicht genau wegen dieser fatalen Mischung aus einer falschen Theorie/Erklärung der Depression, auf die sich dann eine ebenso falsche bzw. höchst einseitige Behandlung aufbaut, das eh schon schlimme Problem noch vergrößert? „Zielt“ diese Art von Psychiatrie nicht „vollständig am sozialen Subjekt vorbei“, wie es ein Insider, der kritische Psychiater Stefan Weinmann, in seinem letzten Buch ausdrückte [2]. Und schadet eine solche Psychiatrie nicht mehr, als sie nützt?!

Das ehrliche Fazit kann eigentlich nur lauten: „Wir werden über das Wesen von Depressionen systematisch falsch informiert“. Und „das ganze System ist krank“, erfordert eine „vollständige Überholung“! (aus Hari, a.a.O.). Man kann diesem System leider leider nicht mehr vertrauen! Und trotzdem sind jeden Tag von neuem seelisch leidende Menschen auf dieses System angewiesen. Eine Katastrophe, ein Skandal!

Wichtig: Auch wenn Sie diesem Artikel und seiner inhärenten Skepsis gegen Medikamente zustimmen, setzen Sie Ihre Pillen bitte nicht abrupt und eigenmächtig ab – das kann extrem gefährlich werden! Suchen Sie sich einen Arzt oder Therapeuten, der Sie berät und dann unterstützt – ja, ich weiß, der/die ist extrem schwierig zu finden…! Und sorry, dass Psychotherapie in diesem Artikel nicht auftaucht…


[1] Die Insel-Metapher und weitere Gedanken dieses Absatzes verdanke ich vornehmlich dem Buch „Der Welt nicht mehr verbunden“ von Johann Hari. Bitte lesen!

[2] Stefan Weinmann „Die Vermessung der Psychiatrie“. Psychiatrie-Verlag 2019


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8 Comments

  1. Meinen Sie mit „aus diesem Grund“, weil die Medikamente ihr Gehirn wieder ins chemische Gleichgewicht bringen sollten? Wenn ich das so richtig verstanden habe, dann schwillt meine Zornesader über Ihre(n) Behandler:in heftig an. Wenn Ihre NW wirklich Suizidalität war – von hier aus kann ich das natürlich nicht sicher beurteilen, aber ja, das ist oftmals die Folge von Antidepressiva! – dann ist das ein zwingender Grund, das auslösende AD schnellstmöglichst zu verlassen!
    Ich selbst habe vor Jahren die Erfahrung gemacht, dass ein SSRI bei mir Suizidalität lichtschalterartig(!) angeknipst hat! Und da ich diese verheerende NW damals schon wusste, konnte ich sie dem Medikament zurechnen und nicht meiner Psyche. Das hat mich gerettet! Das – von mir nur wenige Tage eingenommen SSRI – habe ich damals sofort abgesetzt.
    Ich kann nicht sichert beurteilen, ob das jetzt auch für Sie die richtige Strategie ist. Aber wenn Suizidalität die Folge(!) eines Medikaments ist, das angeblich davor schützen soll – übrigens fachlich völlig falsch, außer vielleicht für Lithium! – was soll man dann anderes machen, als sich möglichst schnell davon entfernen. Ich hoffe, Sie haben Freunde oder Angehörige, die Sie mögen, zu Ihnen stehen und Sie unterstützen. Und: es geht in Depressionen IMMER WEITER, wenn man nicht aufgibt!! Von Herzen alles Gute. – Jürgen Karres

    1. Ja, genau, ich würde durch die Medikamente (SSRI-Antidepressiva) suizidal und sollte sie dann aufgrundessen, also weil die Ärzte die Suizidalität nicht den Medikamenten zuordneten, sie weiternehmen, da ich angeblich eine schwere Depression hatte. Die aggressiven Durchbrüche und Suizidversuche wurden als Persönlichkeitsstörung fehldiagnostiziert und ich bekam daraufhin noch weitere Psychopharmaka (Neuroleptika, Stimmungsstabilisierer).

      Ursprünglich war ich nicht depressiv, sondern litt unter einer körperlichen Erschöpfungskrankheit, die nur durch konsequentes Ausruhen besser wird. Doch das wurde mir damals nicht geglaubt, also musste ich mich auf Depressionen diagnostizieren lassen, um einen Grund zu haben, keiner Erwerbstätigkeit nachgehen zu müssen, denn das wäre auf Dauer zu anstrengend geworden.

      Weil aber die Psychiater Fortschritte sehen wollten, wurde ich zu der Einnahme von antriebssteigernden Antidepressiva gedrängt. Dass ich davon suizidal wurde, haben die Ärzte anderen Gründen zugeschoben.

      Die Suizidalität war, wie Sie es beschreiben, als ob jemand einen Lichtschalter betätigt hätte. Blöderweise wusste ich nichts über diese Nebenwirkung. Die Pharmafirmen hagennsie zu dieser Zeit bewusst verschwiegen, um keine Umsatzeinbußen zu riskieren. Das kann man unter anderem auf dieser Website nachlesen.

      Hinzu kam, dass die Suizidalität bei mir wahnhaft war, das heißt, der Wahn selbst hat mir quasi verboten, die Medikamente abzusetzen, weil es ja mein „Auftrag“ war, mich unbedingt suizidieren zu müssen! Obwohl ich gar nicht sterben wollte. Aber es fühlte sich so an, als ob eine fremde Macht in mir sei, die mich dazu gezwungen hat.

      Ich musste drei Jahre in diesem Zustand verharren. Niemand tat etwas dagegen, ich selbst war zu durcheinander, um etwas dagegen zu tun.

      Ich wurde immer aggressiver und suizidaler.

      Dann kam ich sogar in die forensische Psychiatrie, dort wurde der letzte SSRI wegen angeblicher mangelnder Verfügbarkeit abgesetzt und mir ging es innerhalb weniger Tage deutlich besser, die Suizidalität verschwand. Da wurde mir klar, dass sie an den Medikamenten gelegen haben muss.
      Leider wurde mir der Zusammenhang nicht geglaubt und ich musste somit noch einige Zeit in der forensischen Psychiatrie verbringen.

      Vielen Dank für die guten Wünsche! Ihnen auch alles Gute.

    2. Übrigens war ich Jahre danach tatsächlich depressiv, habe das aber nicht medikamentös behandeln lassen, weil ich nicht wollte, dass sowas nochmals passiert. Es ist dann nach Jahren mehr oder weniger von alleine besser geworden.

      1. Es erschüttert mich zu lesen, was Sie haben durchmachen müssen!!! Wie es sich anhört, handelt es sich aber um ein zurückliegendes Ereignis – und nur gut, dass dieser Spuk offenbar vorbei ist.
        Freilich muss man Ihre Erfahrung als geradezu EXEMPLARISCH bezeichnen: Ärzte sind vielfach fehlinformiert (natürlich nicht alle Ärzte!), wissen einfach nichts über diese schreckliche mögliche(!) NW „Suizidalität“ von Antidepressivas/SSRIs. Angesichts der aber deutlichen Probleme Ihrer Patient:innen kommt es dann in einem 2. Schritt – wie bei Ihnen – zu diesen typischen Fehldiagnosen und als Drittes werden zusätzliche Psychopharmaka verordnet. Guten Gewissens meist und zur Lösung der Probleme gedacht, realiter aber in eine immer tiefer gehende Spirale bzw. einen kaum noch lösbaren Teufelskreis hineinführend.
        Gottseidank kam es dann bei Ihnen irgendwann – und nach einer einfach furchtbar klingenden Zeit! – doch zu einem Absetzen der ADs (aus welchen Gründen auch immer). Und damit zu einem in meiner Denkweise logischen/folgerichtigen Verschwinden Ihrer „Symptome“; womit Ihnen dieser Zusammenhang „klar wurde“, bedauerlicherweise ja aber noch immer nicht Ihren Ärzt:innen.
        Kernpunkt dieses „Wahnsinns“(!) ist neben dem fehlenden Wissen, dass DEN PATIENT:INNEN EINFACH NICHT GEGLAUBT WIRD. Ärzte lernen in Ihrer Ausbildung an den Universitäten von den angeblich segensreichen Wirkungen der „modernen“ Antidepressiva, aber kaum von solch fatalen NWs, wie von Ihnen geschildert! Und sie glauben(!) dann fälschlicherweise über das zutreffende Wissen zu verfügen. Manchmal, wie bei Ihnen, entpuppt es sich aber als fatal wirkendes Herrschafts-wissen.
        Was fehlt, ist eine HÖRENDE PSYCHIATRIE! Wo also der Patient angehört, als Subjekt wahr- und ernstgenommen wird. Und nicht unter die Räder eines vermeintlich höheren Fachwissens gerät. Ein Lichtblick heute ist, dass in manchen psychiatrischen Kliniken mittlerweile sogenannte EX-IN-ler, auch „Genesungsbegleiter“ genannt, ins Behandler:innen-Team einbezogen werden, also Menschen, die selbst Erfahrungen mit psychischen Krankheiten gemacht haben und jetzt nach überwundener eigener Krisenerfahrung (und zusätzlich einem längeren Lehrgang) sehr hilfreich wirken können. Überall, wo das geschieht, wird die Psychiatrie besser, d.h. auch HUMANER.
        Ihnen persönlich abschließend noch meinen Respekt und meine Bewunderung, dass Sie trotz aller dieser äußeren Klippen und Hindernissen Ihren Weg gefunden haben. Und DANKE, dass Sie Ihre Geschichte hier auf Depression-Heute mit anderen Lesern, ggf. Betroffenen teilen.

    1. Sie sprechen mir aus der Seele! Ich habe insgesamt 14 Jahre Psychopharmaka bekommen. Die letzten Jahre kam ich auf sage und schreibe 5 verschiedene Präparate, die ich einnehmen musste. Hab ca. 30 kg zugenommen in dieser Zeit und es wurde immer mehr und ich habe mich nicht getraut, dagegen anzugehen. So nach dem Motto, ich habe keine andere Wahl, bis ich den Mut fasste, es anzugehen. Ich bin froh, es mittlerweile geschafft zu haben. Hoffentlich bleibt es so!

      1. Respekt, dass Sie es geschafft haben auszusteigen. Doch wieviel Leid wurde da zuvor verursacht, Ihnen angetan. Und es gibt in Wirklichkeit ja von Beginn an gute Alternativen zu Psychopharmakas (bzw. bessere Wege!), aber allzuoft wird auf diese nicht hingewiesen. Und je länger man Psychopharmaka nimmt – und FÜNF in Kombination ist einfach ein nicht verantwortbarer Wahnsinn! – desto schwieriger wird es, noch von diesem Karussell runterzukommen. Dass es dennoch möglich ist – „irgendwie“ möchte man hinzufügen – beweist ihr Beispiel. Es sollte anderen Betroffenen Mut machen, es ebenfalls „anzugehen“. DANKE für Ihren wichtigen Beitrag hier und alles Gute weiterhin.

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