Behandlungserfolge ohne Antidepressiva

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Prof. Dr. Reinhard Maß leitet seit knapp 20 Jahren die verhaltenstherapeutische Station „Aaron T. Beck“ am Klinikum Oberberg. Für seine aktuelle Studie, die im Jahr 2023 im renommierten Journal Psychopharmacology erschienen ist, hat er die Daten von 998 depressiven Patienten dieser Station ausgewertet, denen zusätzlich zur medikamentösen Behandlung immer eine Verhaltenstherapie angeboten wurde, und kam zu spektakulären Ergebnissen.

Depression-Heute (DH): Herr Professor Maß, ihre aktuelle Arbeit hat das Potenzial, die Behandlung von depressiven Patienten in den Psychiatrien zu revolutionieren. Können Sie die Ergebnisse kurz zusammenfassen?

Reinhard Maß: Gern. Die neue Arbeit ist die Fortsetzung und Ergänzung einer im Jahre 2019 veröffentlichten Langzeitstudie. Alles begann im Jahr 2012. Mein Ziel war die Wirkung der komplexen Intensivbehandlung, die unsere stationär aufgenommen depressiven Patienten erhalten, zu untersuchen. Dafür habe ich die Depressivität zu Beginn und am Ende der Behandlung mit einem geeigneten Fragebogen erfasst. Wichtig war mir auch eine Überprüfung, die sechs Monate nach der Entlassung erfolgte, damit ich die Nachhaltigkeit der Behandlung bewerten konnte. Im Jahr 2017 hatte ich knapp 600 Fälle zusammen und begann mit den Auswertungen, bei denen es auch um die Einflüsse von Alter, Geschlecht, Dauer der Behandlung, Diagnosen, verwendete Psychopharmaka und so weiter ging. Es zeigte sich ein insgesamt guter Erfolg der Behandlung; bei Entlassung betrug die sogenannte Effektstärke dafür betrug bei der Entlassung 1,6 und auch noch nach sechs Monaten lag der Wert immer noch bei 1,1.

DH: Das sind wirklich beeindruckende Besserungen. Nach neueren Berechnungen besitzen Antidepressiva eine Effektstärke von 0,3-0,4. Und grundsätzlich gilt jeder Wert über 0,8 als „großer Effekt“. Ihre Behandlung hat eine doppelt so hohe Wirkstärke.

Reinhard Maß: Meine Auswertung zeigte außerdem, dass die Wirkung der stationären Behandlung nicht davon beeinflusst wurde, ob jemand Antidepressiva nahm oder nicht. Es spielte auch keine Rolle, ob bei der Person ein Medikament geändert wurde. Anhand der Daten konnte ich sogar sehen, dass es keinen Unterschied machte, ob die Person bereits zuvor ein Antidepressivum genommen hatte oder bei uns auf der Station erstmals ein solches Medikament erhalten hatte – denn das wird ja häufig vermutet und auch gelehrt, dass der Einsatz von Antidepressiva bei einer erstmals aufgetretenen Depression eine besonders hohe Wirksamkeit hätte – aber meine Daten haben das nicht gezeigt. Ich hatte das in dieser Deutlichkeit nicht erwartet.

DH: Das ist ja eine sehr ernüchternde Beschreibung der Wirksamkeit von Antidepressiva bei schweren Depressionen und vor allem: Bei Patienten, die so stark darunter gelitten haben, dass ein klinischer Aufenthalt nötig war. Waren Sie denn schon vorher sehr kritisch in Bezug auf die Wirksamkeit von Antidepressiva?

Reinhard Maß: Nein, eigentlich nicht. Vor meiner Zeit in Oberberg hatte ich knapp 20 Jahre lang in Hamburg am UKE in der Psychiatrie gearbeitet, vor allem als Stationspsychologe, und in dieser Zeit hatte ich schon viele Erfahrungen mit Psychopharmaka gesammelt. Es war für mich „normal“, dass Antidepressiva verschrieben wurden. Das Prozedere ist ja an fast allen Kliniken dasselbe. Mein Eindruck war, dass die Wirkung von Antidepressiva vermutlich nicht sehr stark ist, verglichen etwa mit Benzodiazepinen, aber oft ist man über jedes bisschen Hilfe froh, auch als Psychotherapeut; ich habe deshalb früher selbst gelegentlich zur Verordnung von Antidepressiva geraten.
Skeptisch hat mich das praktische Vorgehen dennoch gemacht: Man verordnet ein Antidepressivum. Wenn es nicht wirkt, wird die Dosis erhöht. Wenn dann immer noch keine Wirkung eintritt, wechselt man das Präparat oder ergänzt es. Wenn die Depression dann – nach Wochen, vielleicht erst nach Monaten – abklingt, heißt es: „Jetzt haben wir das richtige Medikament in der richtigen Dosis gefunden. Das hat mich an einen Regentanz erinnert. Der wirkt auch immer – wenn man lange genug tanzt, kommt irgendwann der Regen.

DH: Aber damit war ab 2018 Schluss?

Reinhard Maß: Ja. Die Auswertungen hatten keinerlei Hinweis auf einen zusätzlichen therapeutischen Nutzen von Antidepressiva gezeigt, deshalb haben wir damals unser therapeutisches Konzept auf der Station verändert. Wir haben die Patienten über unsere Erfahrungen aufgeklärt und aufgehört, Antidepressiva zu empfehlen. Die meisten Patienten sind froh darüber, ohne Antidepressiva behandelt zu werden. Es gibt aber auch bestimmte Patienten, die seit vielen Jahren Antidepressiva einnehmen und diese behalten möchten. Natürlich durften diese Patienten ihre Medikamente weiterhin einnehmen, wir haben sie ihnen nicht weggenommen. Insgesamt zeigte sich seither ein deutlicher Rückgang in der Häufigkeit der Verwendung von Antidepressiva.

DH: Und diese Veränderung ist Gegenstand Ihrer neuen Veröffentlichung von 2023.

Reinhard Maß: Ja, wir haben darin die beiden Intervalle verglichen. Also zum einen die Patienten, die von 2012 bis 2017 bei uns behandelt wurden, und dann die Patienten, die nach den neuen Vorgaben von 2018 bis 2022 bei uns waren. Das ist wie bei einem Feldexperiment mit zwei Untersuchungsphasen. In beiden Phasen konnten wir die hohe Wirksamkeit der stationären Verhaltenstherapie belegen. Unsere Daten zeigen ganz klar, dass die Streichung von Antidepressiva aus dem Konzept keinen Nachteil hatte – im Gegenteil.
In der zweiten Untersuchungsphase – ohne Antidepressiva – war der Therapieeffekt sogar etwas stärker, es gab etwas weniger Therapieabbrüche, und die Behandlungsdauer war um 4½ Tage kürzer. Die Daten weisen somit darauf hin, dass die Behandlung ohne Antidepressiva etwas effizienter sein könnte als mit. Daher steht in der Zusammenfassung unserer wissenschaftlichen Arbeit in dieser hochrangigen Zeitschrift: „Die gängige Verschreibung von Antidepressiva sollte hinterfragt werden (the current prescribing practices of antidepressants should be questioned)“.

DH: Das ist ein ganz schöner Knüller. Wie sind denn ihre Daten von den deutschen Kollegen aufgenommen worden. Schließlich wird so etwas nicht alle Tage veröffentlicht.

Reinhard Maß: Offen gestanden habe ich den Eindruck, dass viele Psychiater sich nicht gerne mit solchen Ergebnissen auseinandersetzen. Das betrifft leider auch die meisten führenden Köpfe des Faches – wobei es löbliche Ausnahmen gibt, aber es sind nicht viele. Ich wollte unsere Arbeit ursprünglich im Nervenarzt, der führenden deutschsprachigen Psychiatriezeitschrift, veröffentlichen, damit sie deutschen Psychiatern und Psychologen einfacher zugänglich ist. Der Nervenarzt hat zwar in der internationalen Forschung eine eher geringe Bedeutung (niedriger Impact Factor), hat aber eine hohe Auflage und wird viel gelesen. Dort hatte ich das Manuskript zuerst eingereicht. Der zuständige Herausgeber hatte mir dann geantwortet, das wäre alles nicht sehr interessant, es seien methodische Fehler in der Arbeit und sie sei nicht aussagekräftig – das war eine ganz pauschale Behauptung, die noch nicht einmal begründet war. Tatsächlich hat er keine unabhängige Begutachtung eingeleitet. Ich habe dann dieselben Daten an die englischsprachige Fachzeitschrift Psychopharmacology gesendet, die einen viermal höheren Impact Factor hat als der Nervenarzt, und dort war man von den Ergebnissen sehr angetan und hat den Artikel nach dem Begutachtungsprozess (peer review) angenommen. Vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus kann man die Ablehnung durch den Nervenarzt schwer erklären.

Prof. Dr. Reinhard Maß, Leiter der Station Aaron T. Beck am Klinikum Oberberg.

Die Daten weisen somit darauf hin, dass die Behandlung ohne Antidepressiva effizienter sein könnte als mit.

Prof. Dr. Reinhard Maß

DH: Haben Sie den Eindruck, dass nicht alle deutschen Psychiater und Psychologen etwas über den geringen Nutzen der Antidepressiva erfahren sollen?

Reinhard Maß: Es ist eine bekannte Tatsache, dass sehr viele Entscheidungsträger in der Psychiatrie aufgrund von Verbindungen zur Pharmaindustrie (z.B. durch sog. Beraterverträge) in finanziellen Interessenkonflikten stehen, auch nach ihrer eigenen Einschätzung und Selbstauskunft. Das betrifft unter anderem auch die Herausgeber von Fachzeitschriften, und ist auch beim Nervenarzt der Fall. Leider ist das legal. Aber nach meiner Einschätzung führt das oft dazu, dass kritische Beiträge gar nicht erst abgedruckt werden. Diese Erfahrung haben auch andere Kollegen gemacht. Für die Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin ist das eine gefährliche Situation.
In der Wissenschaft gibt es grundlegendes Prinzip: Die Nullhypothese gilt so lange, bis das Gegenteil bewiesen werden konnte. Im Falle von Antidepressiva heißt das, man muss von ihrer Wirkungslosigkeit ausgehen und versuchen, eine Wirkung zu zeigen. Dabei muss man immer nach möglichen Fehlern suchen, die zu falschen Ergebnissen geführt haben könnten, und bereit sein, Irrtümer einzugestehen. So funktioniert jeder wissenschaftliche Erkenntnisprozess. Ich habe den Eindruck, dass es in der Psychiatrie unausgesprochen zu einer Umkehrung dieser Beweisführung gekommen ist. Beispielsweise sind bei den empirischen Wirksamkeitsnachweisen für Antidepressiva seit langem grobe methodische Fehler bekannt, die die Interpretierbarkeit dieser Ergebnisse sehr in Frage stellen. Aber das wird einfach ignoriert. Mich stimmt das sehr nachdenklich.
Da die Monoaminhypothese der Depression schon lange nicht mehr haltbar ist, gibt es zudem (außer unbewiesenen Spekulationen) noch nicht einmal theoretische Gründe für die Annahme, dass Antidepressiva bei Depression helfen könnten. Der einzige gesicherte Wirkfaktor ist der Placeboeffekt, den Psychologen wie Kirsch, Hengartner & Plöderl sehr gut dargestellt und berechnet haben.

DH: Sie haben aber nicht nur den Effekt von Psychotherapie und Antidepressiva berechnet, sondern Sie sind auch noch ein bisschen weiter gegangen.

Reinhard Maß: Wenn die Patienten nach unserem Aufklärungsgespräch gesagt haben, sie wollen versuchen, weniger oder keine Antidepressiva zu nehmen, dann haben wir sie dabei unterstützt.

DH: Das bedeutet, es kamen akut depressive Patienten auf ihre Station, also sehr schwer depressive Patienten, und sie vereinbarten, die Antidepressiva abzusetzen?

Reinhard Maß: Ja, das haben wir vor allem seit 2018 sehr oft gemacht. Wie in der Studie von 2023 beschrieben, wurden bei über 100 Patienten die Antidepressiva während der Behandlung komplett abgesetzt. In fast allen Fällen ging das auch ohne größere Probleme.

DH: Aber das dauert doch Jahre. Wir empfehlen immer ein sehr langsames Reduzieren über einen Zeitraum von 16 bis 24 Monaten.

Reinhard Maß: So viel Zeit haben wir natürlich nicht. Bei uns sind die Patienten in der Regel neun bis zehn Wochen. Das ist jedoch verhältnismäßig lange für einen Klinikaufenthalt und mein Eindruck ist, dass man in der Klinik viel mehr machen kann und auch manches schneller erreichen kann als im ambulanten Bereich, also zuhause – vielleicht einfach nur, weil die Patienten sich im vollstationären Rahmen sicherer fühlen und Entzugssymptome leichter tolerieren können.

DH: Aber wenn man das so schnell macht, gibt es dann nicht häufig schwere Komplikationen?

Reinhard Maß: Wir hatten seit 2018 einen Fall, in dem beim Absetzen eine Hypomanie ausgelöst wurde, die dann aber schnell wieder abgeklungen ist. Das war’s. Ich würde sagen, wir haben eine ganz gute Routine entwickelt und deshalb können wir sehr oft in akut depressiven Phasen die Medikamente absetzen.

DH: Das ist wirklich erstaunlich. Ihre Daten legen nahe, dass vermutlich viel mehr Menschen ihre Medikamente viel schneller loswerden könnten, wenn es stationäre Hilfen gäbe, also Kliniken die beim Absetzen von Antidepressiva helfen. Wie stehen sie zu dieser Thematik?

Reinhard Maß: Ich würde mich freuen, wenn es mehr Möglichkeiten geben würde, Antidepressiva im stationären Rahmen abzusetzen. Es wäre aber auch schon sehr viel getan, wenn wir Absetzambulanzen einrichten würden, die bei der Antidepressiva-Problematik aufklären und helfen.

DH: Ich muss zugeben, neben Ihrem Ergebnis hat mich am meisten die Anzahl der Fälle beeindruckt und die Tatsache, dass sie alle persönlich untersucht haben. Das ist noch die gute alte Tradition, die vor 50 Jahren bei psychiatrischen Veröffentlichungen normal war und mittlerweile in Vergessenheit geraten ist. Denn nichts ist schwieriger zu vergleichen, als Fragebögen von Patienten, die von unterschiedlichen Personen begutachtet wurden. Das ist ja auch die große Schwäche von vielen Meta-Auswertungen, dass am Ende eine große Beliebigkeit herauskommen kann – je nachdem, welcher Patientensatz ausgewertet und zusammengefasst wird. Im Gegensatz dazu haben Sie ja keine Daten von anderen übernommen, sondern genau das ausgewertet, was auf ihrer Station geschehen ist.

Reinhard Maß: Ja, darauf bin ich auch ein bisschen stolz. Ich kenne jeden der 998 Patienten der Studie und war an allen Behandlungen beteiligt. Daher bin ich mir auch zu 100 Prozent sicher, dass die Ergebnisse zuverlässig sind. Außerdem wurde unser Manuskript bei der Begutachtung streng und kritisch geprüft.

DH: Was können Sie Ihren Kollegen mit auf den Weg geben?

Reinhard Maß: Ich möchte zum Ende noch einmal auf den lang anhaltend Effekt guter Verhaltenstherapie hinweisen. Für Psychologen und Psychiater gibt es keinen Grund, sich bei der Behandlung von Depression hinter Antidepressiva zu verstecken. Die Arbeit zeigt vor allem: Ein schwer depressiver Patient, der von guter Verhaltenstherapie profitiert, benötigt keine Antidepressiva.

DH: Vielen Dank für das Gespräch.


Link zur Studie von 2023
Link zur Studie von 2019

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One Comment

  1. Ganz herzlichen DANK für dieses wichtige Interview und die einmal ganz anderen Studienergebnisse zu Antidepressiva. Und ich möchte die wichtigen Aussagen von Prof. Maß noch ergänzen um einen Satz bzw. eine Frage des Sozialforschers Nikolas Rose (zitiert aus dem lesenswerten Buch „Neue Psychiatrie“ von Felix Hasler, S. 215f): „Wer aber wird für die vielen Millionen Menschen auf der ganzen Welt zur Verantwortung gezogen, die Medikamente von zweifelhaftem Wert für Erkrankungen von zweifelhafter Aussagekraft einnehmen…?“ Ja, wer nur?!!

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