Stromschläge im Kopf

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Autor: Andreas Gossweiler in Gesundheitstipp Februar 2021 (Schweiz)

Antidepressiva: Beim Absetzen leiden Patienten oft Qualen

Wer Medikamente gegen Depressionen absetzt, leidet oft unter schweren Entzugserscheinungen.

Deshalb raten Experten, die Mittel in sehr kleinen Schritten zu reduzieren.

Ein Jahr lang nahm Salome Balasso Deroxat. Sie litt an einer Depression und an Angststörungen. Wegen Nebenwirkungen setzte sie das Mittel ab. «Ein Arzt sagte mir, es gebe keine Entzugserscheinungen», erinnert sich die 31-Jährige aus Köniz BE. Doch nachdem sie das Medikament abgesetzt hatte, spürte sie immer wieder Stromschläge im Kopf. «Die Schläge waren so stark, dass ich mich hinsetzen musste», sagt Salome Balasso. Ihr war schwindlig, und nachts war sie unruhig und schlief schlecht. Die Beschwerden hielten mehrere Wochen an.

So wie Salome Balasso geht es vielen Patienten. Das belegte der Psychiater Michael P. Hengartner von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in einer Studie, die kürzlich in der Fachzeitschrift «Therapeutic Advances in Psychopharmacology» erschien. Er untersuchte die Berichte von rund 70 Betroffenen. Hengartner fand heraus: Die Entzugserscheinungen dauern häufig monate- oder jahrelang. Dazu zählen Beschwerden wie Kopfweh, Schlafstörungen, Angst, Depressionen und Suizidgedanken. Laut Hengartner sind Medikamente wie Deroxat [Paroxetin] und Zoloft [Sertralin] für rund 80 Prozent der Entzugserscheinungen verantwortlich. Sie gehören zur Gruppe der sogenannten SSRI. Diese erhöhen die Konzentration des «Glückshormons » Serotonin im Gehirn und sollen so die Stimmung heben.

Entzugserscheinungen in jedem zweiten Fall

Vor zwei Jahren zeigte eine britische Studie mit über 4000 Patienten: Mehr als die Hälfte der Patienten ist von Entzugsproblemen betroffen. Grund dafür sei, dass sich das Gehirn auf den Wirkstoff der Medikamente einstellt und irritiert reagiert, wenn dieser wegfällt, erklärt Hengartner. Dennoch würden viele Psychiater das Risiko für Entzugserscheinungen und den Schweregrad immer noch «massiv unterschätzen», kritisiert Hengartner. Die Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression schreibt auf ihrer Internetseite, die Antidepressiva würden nicht abhängig machen. Man könne sie «problemlos» monate- oder jahrelang ein­ nehmen. Der deutsche Depressionsforscher Peter Ansari sagt: «Die allermeisten Psychiater verleugnen das Problem vehement.» In seinem Buch «Unglück auf Rezept» führt Ansari dies auf «geschickte Propaganda» der Hersteller zurück. Auch der Berliner Psychiater Tom Bschor, Autor eines Ratgebers über Antidepressiva, sieht das kritisch: «Das Verschweigen von Problemen führt viel eher dazu, dass Patienten Medikamente ablehnen, als wenn die Ärzte offen über Probleme sprechen.»

Psychiater glauben den Patienten nicht

Ansari kritisiere, viele Psychiater würden den Berichten ihrer Patienten nicht glauben, weil diese den Aussagen der Pharmavertreter widersprechen. Es sei mühevoll, die Patienten beim Absetzen zu betreuen. Viel einfacher sei es für die Ärzte, Absetzerscheinungen als Rückfall in die Depression zu betrachten.

So erging es der 55-jährigen Mirjam Wittwer aus Bözen AG. Nach dem Absetzen der Cymbalta-Kapseln spürte sie Stromstöße im ganzen Körper. «Als diese Beschwerden nach drei Wochen immer noch andauerten, sagte mein Psychiater, sie könnten nicht vom Absetzen des Medikaments stammen», so Wittwer. Der Psychiater schlug ihr vor, das Medikament wieder zu nehmen. Das wollte Mirjam Wittwer aber nicht. Nach zwei Monaten verschwanden die Stromstöße.

Das Gefühl von Stromstößen ist laut der Zeitschrift «Arznei-Telegramm» ein typisches Entzugssymptom solcher Medikamente. Bei anderen Beschwerden wie Depressionen ist es schwieriger, Entzugssymptome von Anzeichen eines Rückfalls zu unterscheiden. Peter Ansari erklärt: Wenn solche Beschwerden in einer gesunden, stabilen Phase und innerhalb weniger Tage nach dem Absetzen schlagartig auftreten, könne man sicher sein, dass es sich um Entzugsfolgen handle.

Die Pharmafirma GSK, Hersteller des Medikaments Deroxat, entgegnet, Absetzsymptome würden oft innerhalb von zwei Wochen von selber abklingen. Das habe auch die britische Studie gezeigt. Hersteller Eli Lilly sagt, seine Medikamente Cymbalta und Fluctine [Fluoxetin] hätten ein günstiges Risiko-Nutzen- Profil. Die Firma Lundbeck, die Cipralex und Seropram herstellt, schreibt in einer Stellungnahme, viele Studienteilnehmer hätten die Medikamente entgegen der Empfehlungen im Beipackzettel abrupt abgesetzt. Beschwerden nach dem Absetzen seien kein Beweis dafür, dass Antidepressiva abhängig machen.

von Andreas Gossweiler (für die Schweizer Zeitschrift Gesundheitstipp)

https://www.gesundheitstipp.ch/artikel/artikeldetail/stromschlaege-im-kopf/

So vermeiden Sie Probleme beim Absetzen

►           Behandeln Sie leichte Depressionen nicht mit Antidepressiva, sondern mit Psychotherapie oder mit sanften Mitteln wie Johanniskraut.

►           Setzen Sie Antidepressiva nicht auf eigene Faust ab, sondern nur in Absprache mit Ihrem Arzt.

►           informieren Sie Ihr soziales Umfeld darüber, dass Sie nach dem Absetzen möglicherweise monatelang unter Beschwerden leiden.

►           Reduzieren Sie die Dosis langsam und in kleinen Schritten. Bei Mitteln wie Citalopram muss man die Menge immer wieder halbieren, bei Medikamenten wie Paroxetin in 10-Prozent­ Schritten reduzieren

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7 Comments

  1. Danke für den Artikel! Das tut uns allen gut, die ihre Drogen nicht mehr absetzen können und schlimmste Entzugsprobleme erleiden!

  2. Vielen Dank für den Artikel und alle Ihre Versuche, auf die Problematik der Antidepressiva aufmerksam zu machen!
    Ich habe meine Erfahrungen mit dem Absetzen auf meiner Internetseite ausführlich beschrieben, in der Hoffnung anderen Betroffenen frühzeitig Information zu bieten:

    www. zerotoninblog.de

  3. Ich schaffe es leider auch nicht, ganz niedrige Dosierung, trotzdem Stromgefühle. Ich weiß nicht ob es gesundheitsschädlich ist wenn ich diese einfach eine Weile aushalte, bis es verschwindett

    Lg Silvana

    1. Der Artikel ist gut danke. Auch ich versuche runter zu kommen von duloxetin. Habe schon lange Zeit 30mg genommen und es am selben Tag immer betreut wenn ich mal eine vergessen hatte. Nun kommt der Entzug. Alle 26 Tage 10mg weniger. Ist schwer wenn es das Medikament nicht in den Dosen gibt die man dafür braucht. Mein Arzt sagt er wisse nichts davon das dieses Medikament abhängig macht aber er vertraut mir das ich damit die Wahrheit sage. Ich lese dieses Problem im interne um zu schauen ob es noch mehr wie mich gibt und sehe das es das Problem schon so viele Jahre gibt. Warum um Himmels willen können Ärzte auf ihren sämtlichen Seminaren die sie gehen müssen nicht mal vernünftig aufgeklärt und auch mal solche Probleme angesprochen werden .

  4. Auch ich berichte über meinen protahierten Entzug auf Instagram:
    @metamorphilus

    Wo ich kann, verlinke ich diese Website! Und auch der Zerotoninblog ist so unfassbar „zerreissend“ gut geschrieben.
    Wir dürfen nicht müde werden, darüber aufzuklären!!!!

  5. Danke für diesen hilfreichen Artikel!!! Und auch eure Kommentare. Jetzt weiß ich wenigstens sicher, dass die stromschläge vom Absetzen von Citalopram kommen und ich versuch es eben auszuhalten, bis sie hoffentlich bald verschwinden. Ich habe über Wochen halbiert, dann geviertelt und jetzt ganz abgesetzt und paar Tage danach fing es unter anderem mit den stromschlägen an….
    Wird schon werden, aber nach 12 Jahren Citalopram stell ich mich auf längere Zeit mit Absetz-Symptomen ein.

  6. Ich nehme Paroxat 30mg schon seit 15 Jahren, habe mindestens 3x versucht, sie wirklich sehr, sehr langsam herunter zu dosieren und als ich bei der letzten halben Tbl. /Woche angekommen bin, waren diese Stromschläge im ganzen Körper so stark, sogar nachts. Ich habe eine halbe Tbl. genommen und zack, wars wieder gut. Ich halte diese Dauer Stromschläge nicht aus, dass ist so quälend, ich konnte nur noch heulen und war richtig labil!!!

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