Neues Leid für depressive Patienten

Leitlinie unipolare Depression

Neues Leid für depressive Patienten. Die neue Leitlinie unipolare Depression. Psychiater sollen weiterhin Tabletten verschreiben, obwohl eine langfristige Gesundheit der Patienten erreichbar wäre.

Leitlinie unipolare Depression

Ein Rezept ausstellen: Obwohl antidepressive Medikamente bei 90 Prozent der depressiven Patienten nicht besser wirken als Placebo und starke Nebenwirkungen haben, sowie Suizidgedanken auslösen; sollen die Medikamente weiterhin die Behandlungsmethode der Wahl für Ärzte bleiben. Viele Patienten leiden unter schweren Entzugserscheinungen. Auf solche Punkte geht die Neufassung der Leitlinie nicht ein. Patienten können nicht hoffen, dauerhaft gesund zu bleiben, da Studien, die das Langzeitergebnis vergleichen, von den Autoren ausgeklammert worden sind.

 Im August 2015 wurde die Neufassung der S3 Behandlungsleitlinie für depressive Patienten veröffentlicht.

Auf den hinteren Seiten findet sich Kritik an antidepressiven Medikamenten: Venlafaxin und Duloxetin werden als besonders gefährliche Medikamente dargestellt, die das Risiko von Suizidalität und suizidalen Handlungen erhöhen (S. 171). Zusätzlich sollen in Zukunft schwangere Frauen besser vor antidepressiven Medikamenten geschützt werden, weil Paroxetin und Fluoxetin (Prozac) häufig Fehlbildungen bei Babys verursacht haben (Statement 3-95 S. 157). Es wäre sinnvoll ein Behandlungsverbot dieser Substanzen bei sämtlichen jungen Frauen zwischen 18 bis 40 Jahren auszusprechen, da Frauen in diesem Alter spontan schwanger werden können und genug medikamentöse Alternativen zur Verfügung stehen. Dann wäre die Leitlinie patientenorientiert und würde sich nach dem ärztlichen Prinzip des „nicht schädigen“ orientieren (nihil nocere).

Stattdessen findet sich der wichtigste Leitsatz auf Seite 77: „Prinzipiell kann jedes depressive Syndrom mit Antidepressiva behandelt werden.

Die Leitlinie hilft Psychiatern und Ärzten, schneller Tabletten zu verschreiben, und entbindet sie von der zeitintensiven Auseinandersetzung mit den individuellen Problemen der Patienten. Für dieses Ziel werden 1545 Studien zitiert. Viele davon sind schlechte Studien, die nur einen Zeitraum von sechs bis zwölf Wochen untersuchen und einen minimalen Effekt beschreiben.

Patienten, die nach einer Depression lange gesund sind und nur selten einen Rückfall erleiden sind nicht Gegenstand der 1545 Studien.

Obwohl bereits mehrere Studien den Langzeiteffekt (mehr als zwei Jahre) von Therapien auf depressive Patienten verglichen haben, findet sich keine einzige davon im Literaturanhang (Hughes und Cohen 2009; Colman et al. 2011). Das gilt auch für Studien, die das Langzeit-Behandlungsergebnis von Patienten verglichen, die keine Medikamente erhielten, mit denen, die sofort Medikamente erhielten (Coryell et al. 1995; Mueller et al. 1996; Mueller et al. 1999; Solomon et al. 1997). Die Ergebnisse zeigen stets, dass die Patienten die dauerhaft keine Medikamente erhielten, weniger Rückfälle erlitten und nur selten ihren sozialen Status verloren.

Die Leitlinie offenbart einen Konflikt: Patienten wünschen sich langfristige Gesundheit, Psychiater wünschen sich hingegen möglichst kurze Arzt-Patienten-Gespräche.

In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die Leitlinie nicht auf Laborwerten oder dem medikamentösen Plasmaspiegel von depressiven Patienten basiert. Die erstellte Leitlinie ist ein Konsenspapier. Das heißt, es hat ein großes Treffen stattgefunden und nach einer Diskussionsrunde haben die Teilnehmer darüber abgestimmt, was sie für richtig halten.

Welches Mittel hilft einem Patienten, der eine mittelschwere Depression ohne Wahnsymptomatik hat? Oder welches Mittel ist besonders effizient bei 50jährigen Frauen?

Antworten auf solche Fragen findet man in der Leitlinie NICHT. Und tatsächlich gibt es immer noch keinen Beweis für die Wirksamkeit von Antidepressiva. In der Leitlinie steht überraschend ehrlich darüber:

„Über die Mechanismen, durch welche die Wirkung der Antidepressiva zustande kommt, besteht weiterhin Unklarheit. Daher ist es bis heute nicht möglich, verlässlich vorauszusagen, ob und wann ein bestimmter Patient auf ein bestimmtes Antidepressivum ansprechen wird. Es ist also nicht möglich, die Antidepressivabehandlung auf solche Patienten zu beschränken, die auch „tatsächlich“ von der Behandlung profitieren.“ (S.71)

Etwas später:

„Aufgrund dieser Uneinheitlichkeit der Datenlage und Interpretation verzichtet auch diese Leitlinie auf die generelle Empfehlung eines oder weniger spezifischer Antidepressiva, stellt aber im Folgenden weitere wichtige Erkenntnisse aus systematischen Vergleichsuntersuchungen dar.“ (S. 76)

Gegenfrage: Ist es hilfreich Empfehlungen auszusprechen, wenn man nur ganz wenig weiß? Oder ist es besser in solchen Fällen den Schaden zu begrenzen und Nebenwirkungen zu vermeiden? Vor allem, wenn es sich um schwere und wirklich ernst zu nehmende Erkrankungen wie Depressionen handelt.

An vielen Stellen kann man sich über die Leitlinie ärgern:

Beispielsweise hat Irving Kirsch mit seinen Datenanalysen aus den Zulassungsstudien der Antidepressivahersteller (Kirsch et al. 2008) gezeigt, dass antidepressive Medikamente keinen klinischen Nutzen bei Patienten haben, die unter leichten und mittelschweren Depressionen leiden. Selbst bei Patienten, die unter schweren Depressionen leiden, findet sich kein Effekt. Erst wenn die Patienten auf der Hamilton-Skala mehr als 28 Punkte erreichen, also sehr schwere Depressionen haben, können die Medikamente einen leichten, positiven Effekt haben.

Basierend auf diesem Ergebnis könnte man meinen, dass die Leitlinie empfiehlt, die Depressions-Stärke der Patienten zu messen, um darauf basierend eine therapeutisch sinnvolle Entscheidung zu treffen. Aber das ist Wunschdenken. In der Leitlinie werden mittelschwere und schwere Depressionen zusammengefasst. Damit werden 90 Prozent der depressiven Patienten zusammengeführt. Alle sollen mit Antidepressiva behandelt werden (S. 78). Seriös ist das nicht. Eine umfangreiche Auswertung von ambulanten depressiven Patienten zeigte, dass von den ambulanten depressiven Patienten maximal 11 Prozent einen Hamilton Wert von 28 und darüber erreichen (Zimmerman et al. 2005). Das bedeutet, bei 89 Prozent der Patienten zeigen Antidepressiva keine Wirkung.

Da fragt man sich: Wozu sollte ein Psychiater überhaupt eine saubere Diagnostik beherrschen, wenn dies keine veränderte Therapie zur Folge hat.

Andererseits finden sich an unverhofften Stellen, dann doch ein paar Quäntchen wissenschaftlicher Wahrheit in der Leitlinie.

„Detaillierte Untersuchungen haben gezeigt, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Substanzklassen sowie zwischen den verschiedenen Substanzen und Placebo bezüglich des zeitlichen Verlaufs der Besserung marginal sind, also Antidepressiva nicht zu einer schnelleren Besserung als Placebo führen [454, 455].“ (S. 71)

Das heißt, wer Antidepressiva einnimmt, wird gar nicht schneller gesünder, als Menschen, die Placebo oder gar nichts einnehmen. Leider nimmt die Leitlinie die unvermeidliche Frage, warum ein Patient dann überhaupt diese Mittel mit den vielen Nebenwirkungen einnehmen sollte, nicht wieder auf.

Ganz erstaunlich kreativ werden die Autoren, bei ihren „Informationen“ über Johanniskraut. Hier ist zu lesen, die Patienten müssen „ebenfalls aufgeklärt werden über mögliche schwere Wechselwirkungen von Johanniskraut mit anderen Medikamenten“. Nicht wissenschaftlich basiert erscheint zudem die Empfehlung, Johanniskraut als kontraindiziert bei schweren Depressionen einzustufen (S. 183). Es gibt keine Studie, die zeigt, dass Johanniskraut eine Gefahr für schwer depressive Patienten darstellt!

Die Leitlinie erscheint von vorne bis hinten nicht ausgewogen.
Gut gefällt hingegen der Abschnitt über die Therapie von Suizidpatienten, da liest man auf Seite 170:

„Die Schlussfolgerung ist, dass Antidepressiva Suizidversuche und Suizide nicht verhindern.“ … „die größte dieser Metaanalysen ergab sogar eine signifikant erhöhte Rate an Suizidversuchen und Suiziden unter Antidepressiva“. [Eine OECD Studie besagt] „dass ein erhöhtes Verschreiben von Antidepressiva signifikant mit höheren Suizidraten korreliert“ (alles auf S. 170). „Antidepressiva keinen protektiven Einfluss auf die Zahl von Suizidversuchen und Suiziden haben“ (S. 171)
„Merksatz 3-116: Zur speziellen akuten Behandlung der Suizidalität sollten Antidepressiva nicht eingesetzt werden.“ (S. 172)

Besonders ärgerlich sind jedoch offensichtliche Lügen wie:

„Für TZA ist eine Hochdosisbehandlung effektiv, da eine Dosis-Wirkungs-Beziehung besteht.“ (S.80)
„Die Wirksamkeit von Dosiserhöhung ist allerdings gezeigt für TZA, Venlafaxin und Tranylcypromin [647].“ (S. 88)

Dafür wird einer Studie von Michael Bauer zitiert, die ausschließlich auf veröffentlichten Studien basiert. Das ist kein guter Standard, denn seit den Studien von Kirsch und Turner ist bekannt , dass bei Antidepressiva ein Publication-Bias vorliegt (Turner et al. 2008; Kirsch et al. 2008). Das heißt, es werden nur günstige Ergebnisse veröffentlicht. Wissenschaftlich wertvoll ist hingegen die Auswertung der veröffentlichten und unveröffentlichten Daten der Pharmahersteller. Hier ist gezeigt worde, dass die unterschiedliche Dosierungen von sämtlichen Antidepressiva keine höhere Effizienz zur Folge haben. Während Antidepressiva in der geringsten Dosierung eine Besserung um 9,57 Punkte auf der Hamilton Skala bewirkten, führte die höchste Dosierung des Antidepressivums zu einer Besserung von 9,97 Punkten auf der Hamilton Skala. Dosiserhöhungen sind daher klinisch nicht bedeutend (Kirsch et al. 2002).

Ärgerlich ist auch, das erneut der „Wechsel des Antidepressivums („Switching“) empfohlen wird (S. 91). Obwohl Tom Bschor, einer der maßgeblichen Autoren dieser Leitlinie gezeigt, wie unsinnig das ist (Bschor und Baethge 2010).

Und es gibt noch weitere Ärgernisse und Falschdarstellungen. Wir lesen auf Seite 70, dass bei der STAR*D Studie 35 Prozent der Patienten eine leichte Depression gehabt hätten und dass die Antidepressiva deshalb eine so schlechte Wirkung gezeigt hatten. Das ist vollkommen irreführend, denn das wichtigste Ergebnis der STAR*D Studie war, dass nur 5,8 Prozent der Patienten das Therapieziel erreichten. Das Therapieziel war: Depressive Patienten werden mit einem Antidepressivum behandelt, werden gesund und dieser Zustand hält 12 Monate an. Die Daten der STAR*D-Studie zeigten: 94,2 Prozent der Patienten erlitten einen Rückfall oder brachen die Behandlung ab (Pigott 2010, Pigott 2015).

Ein weiterer für Patienten nachteiliger Aspekt ist, dass in dieser Fassung der Leitlinie erstmals bei der Erkennung von Depressionen Trauer als Ausschlusskriterium entfernt wurde. Durch die neue Leitlinie gilt ab sofort jeder, der trauert und gleichzeitig Gewicht verliert, als psychisch krank (S. 39).

Schwerer dürften es auch Patienten haben, die dreimal depressiv waren. Sie sollen mindestens zwei Jahre lang Antidepressiva einnehmen (S.49). Obwohl keine qualitativ hochwertige Studie die Effizienz einer so langen Therapie belegt. Traurig ist zudem, dass die Autoren kein Wort über die mögliche Medikamentensucht verlieren, die nach einer so langen medikamentösen Einnahme entstehen kann.

Erstaunlich kurz ist der Abschnitt über den Entzug von Antidepressiva. Nach vier Wochen soll alles vorüber sein. Dabei zeigt sich wieder die stark tendenziöse Handschrift der Leitlinie. Als Quelle wird eine Arbeit von Fava aus dem Jahr 2015 zitiert (Fava et al. 2015), aber in genau dieser Arbeit beschreibt Giovanni Fava, dass viele Menschen einen Antidepressiva-Entzug ähnlich leidvoll durchleben, wie einen Heroin-Entzug. Das gilt, sogar wenn sie die Medikamente langsam ausschleichen. Fava spricht sich in der zitierten Arbeit dafür aus, von einem Entzug zu sprechen und nicht von einem Absetzsyndrom. Davon findet sich kein Wort in der Leitlinie.

Der größte Fehler der Leitlinie besteht jedoch darin, dem „Response-Wert“ eine therapeutische Bedeutung zu zu gestehen. In qualitativ hochwertigen Auswertungen gilt nur die Remission als sinnvoller Wert zur Beurteilung einer Therapie.

Die Remission ist die Freiheit von depressiven Symptomen und dies ist der einzige Zustand der Auskunft über die therapeutische Effizienz einer antidepressiven Methode gibt!

Wenn dieser Zustand dann auch über mehrere Jahre gehalten wird, kann man eine Empfehlung aussprechen. Die Leitlinie unipolare Depression ist von diesem Ansatz weit entfernt. Sehr zum Leid der Patienten.

Literatur:

Bschor, T., and C. Baethge. 2010. „No evidence for switching the antidepressant: systematic review and meta-analysis of RCTs of a common therapeutic strategy.“ Acta Psychiatr Scand no. 121 (3):174-9. doi: 10.1111/j.1600-0447.2009.01458.x.
Colman, I., K. Naicker, Y. Zeng, A. Ataullahjan, A. Senthilselvan, and S. B. Patten. 2011. „Predictors of long-term prognosis of depression.“ CMAJ no. 183 (17):1969-76. doi: 10.1503/cmaj.110676.
Coryell, W., J. Endicott, G. Winokur, H. Akiskal, D. Solomon, A. Leon, T. Mueller, and T. Shea. 1995. „Characteristics and significance of untreated major depressive disorder.“ Am J Psychiatry no. 152 (8):1124-9.
Fava, G. A., A. Gatti, C. Belaise, J. Guidi, and E. Offidani. 2015. „Withdrawal Symptoms after Selective Serotonin Reuptake Inhibitor Discontinuation: A Systematic Review.“ Psychotherapy and Psychosomatics no. 84 (2):72-81.
Hughes, S., and D. Cohen. 2009. „A systematic review of long-term studies of drug treated and non-drug treated depression.“ J Affect Disord no. 118 (1-3):9-18.
doi: S0165-0327(09)00049-4 [pii] 10.1016/j.jad.2009.01.027.
Kirsch, I. 2014. „Antidepressants and the Placebo Effect.“ Z Psychol no. 222 (3):128-134. doi: 10.1027/2151-2604/a000176.
Kirsch, I., B. J. Deacon, T. B. Huedo-Medina, A. Scoboria, T. J. Moore, and B. T. Johnson. 2008. „Initial severity and antidepressant benefits: a meta-analysis of data submitted to the Food and Drug Administration.“ PLoS Med no. 5 (2):e45. doi: 10.1371/journal.pmed.0050045.
Kirsch, Irving, Thomas J Moore, Alan Scoboria, and Sarah S Nicholls. 2002. „The emperor’s new drugs: an analysis of antidepressant medication data submitted to the US Food and Drug Administration.“ Prevention & Treatment no. 5 (1):23a.
Mueller, T. I., M. B. Keller, A. C. Leon, D. A. Solomon, M. T. Shea, W. Coryell, and J. Endicott. 1996. „Recovery after 5 years of unremitting major depressive disorder.“ Arch Gen Psychiatry no. 53 (9):794-9.
Mueller, T. I., A. C. Leon, M. B. Keller, D. A. Solomon, J. Endicott, W. Coryell, M. Warshaw, and J. D. Maser. 1999. „Recurrence after recovery from major depressive disorder during 15 years of observational follow-up.“ Am J Psychiatry no. 156 (7):1000-6.
Pigott, H. E. 2015. „The STAR*D Trial: It Is Time to Reexamine the Clinical Beliefs That Guide the Treatment of Major Depression.“ Can J Psychiatry no. 60 (1):9-13.
Solomon, D. A., M. B. Keller, A. C. Leon, T. I. Mueller, M. T. Shea, M. Warshaw, J. D. Maser, W. Coryell, and J. Endicott. 1997. „Recovery from major depression. A 10-year prospective follow-up across multiple episodes.“ Arch Gen Psychiatry no. 54 (11):1001-6.
Turner, E. H., A. M. Matthews, E. Linardatos, R. A. Tell, and R. Rosenthal. 2008. „Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy.“ N Engl J Med no. 358 (3):252-60. doi: 10.1056/NEJMsa065779.
Zimmerman M, Chelminski I, Posternak MA (2005) Generalizability of antidepressant efficacy trials: differences between depressed psychiatric outpatients who would or would not qualify for an efficacy trial. Am J Psychiatry 162:1370-1372

 

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