Wenn Wissenschaft gebogen wird – Depressionen, die Leitlinie und die DGPPN

Wissenschaftler mit Pinocchio

Die neue Leitlinie unipolare Depression ist fertig gestellt. Wir haben einen Blick hineingeworfen.

Fachgesellschaften erstellen Leitlinien, damit Ärzte, Psychiater und Psychotherapeuten ihre Patienten nach den aktuellsten Erkenntnissen der Wissenschaft „leitliniengerecht“ behandeln. Normalerweise vertrauen Ärzte den Empfehlungen ihrer Fachgesellschaften. Aber wie steht es um die S3-Leitlinie unipolare Depression, die die DGPPN erstellt hat?
Was erzählt die Fachgesellschaft DGPPN ihren Mitgliedern über die Effizienz von antidepressiven Medikamenten?
Da sich die endgültige Fassung der Leitlinie nicht von der Konsultationsfassung unterscheidet, ist die in diesem Blog zuvor geäußerte Kritik immer noch aktuell.
Depression-Heute
Kritik an der S3-Leitlinie

Seit dem 16. November hat Deutschland wieder eine gültige Therapieempfehlung für depressive Patienten. Es handelt sich um eine S3-Leitlinie. Das bedeutet, hier ist das höchstmögliche wissenschaftliche Beweis-Niveau erreicht, sagt Professor Frank Schneider aus Aachen, einer der beiden Leiter dieser Auswertung.

Es heißt: alle Aussagen zu Therapien wurden auf der Basis der bestverfügbaren wissenschaftlichen Literatur in einem Konsens aller Beteiligten erarbeitet. Das ist die offizielle Darstellung. Aber was ist das höchstmögliche wissenschaftliche Beweisniveau?

Am besten erklärt man das an einem Beispiel. Der folgende Absatz findet sich auf Seite 66. Da wird Wissenschaft „höchstmöglich“ verdreht. Wir zitieren:

„Bei leichten Depressionen ist ein Unterschied zwischen Placebo und Antidepressiva statistisch nicht nachweisbar, so dass nur sehr wenige Patienten von einer Behandlung mit Antidepressiva profitieren dürften („leicht“ ist hierbei definiert als Ausgangswert von 15 oder weniger auf der HAM-D17 Skala und entspricht nicht der leicht ausgeprägten depressiven Störung nach ICD 10). Dieser Sachverhalt wird besonders deutlich bei den Ergebnissen der so genannten Star*D Studie, wo etwa 35 % der insgesamt 3 671 Patienten eine milde Depression hatten und so zu den ungewöhnlich niedrigen Responseraten der Studie beitrugen [452].“ (S. 66).

Zunächst einmal zur STAR*D Studie. Das ist nicht irgendeine unwichtige Studie, die ein Pharmakonzern angefertigt hat. Sondern die bislang umfangreichste und teuerste Studie, mit der Psychiater die Wirksamkeit von Antidepressiva überprüft haben. Die gesamte Studie hat 35 Millionen Dollar gekostet und wurde von Steuergeldern der USA finanziert (also nicht von der Pharmaindustrie).

An der STAR*D Studie haben 4041 depressive Patienten teilgenommen. Es wurde nicht nur ein Medikament ausprobiert, sondern es wurde die Wirkung von mehr als 10 antidepressiven Medikamenten erfasst und verglichen. Die Studie hat einen herausgehobenen Stellenwert, weil hier depressive Patienten unter naturalistischen Bedingungen behandelt wurden („Treating Depression in the real world“).

Die deutsche S3-Leitlinie hätte den interessierten Psychiatern erklären können, was in der Studie über die Effizienz von antidepressiven Medikamenten herausgefunden wurde. Aber das vermeidet die Leitlinie. Wir haben für interessierte Patienten die wichtisten Ergebnisse zusammengefasst.

Ergebnis STAR*D: Von 100 Patienten, die eine Depression hatten und 12 Wochen mit Antidepressiva behandelt wurden, haben nur 27 von der Medikation profitiert. 73 Prozent wurde von den Medikamenten nicht geholfen. Diese Ineffizienz der Medikamente hat sogar der NIMH Direktor Thomas Insel in einem Beitrag kritisiert. Tatsächlich genesen in jeder klinischen Studie eines Pharmakonzerns mehr Menschen in der Placebogruppe. In der Placebogruppe befinden sich Menschen, die unter Depressionen leiden, aber kein antidepressives Medikament erhalten.

Darüber schweigt die S3-Leitlinie. Stattdessen berichtet die im Auftrag der DGPPN erstellte Veröffentlichung, dass Patienten mit leichten Depressionen nicht von einer Behandlung mit Antidepressiva profitieren. Das ist zwar richtig, wird hier aber irreführend eingesetzt. Denn klinische Studien haben stets gezeigt, dass Patienten mit leichten Depressionen grundsätzlich gesunden, egal ob sie antidepressive Medikamente erhalten oder nicht. Die Empfehlung lautet deshalb: Leichte Depressionen nicht mit Medikamenten zu behandeln, da antidepressive Medikamente schwere Nebenwirkungen haben können und häufig Schwierigkeiten beim Absetzen auftreten.

Die Leitlinie, die auf höchstem wissenschaftlichen Evidenzniveau erstellt wurde, und die Unterschrift von 26 (!) deutschen Professoren trägt, erzählt eine andere Geschichte. Die Autoren schreiben, dass die „ungewöhnlich niedrigen Responseraten der Studie“ dadurch zustande gekommen wären, dass viele Patienten, eine leichte Depression gehabt hätten.

Das ist in mehrfacher Hinsicht erstaunlich. Zunächst erstaunt, dass die STAR*D Autoren die Responseraten (Reduktion der depressiven Symptomatik um 50 Prozent) gar nicht erfasst haben, sondern die Autoren sich bereits vor der Durchführung darauf geeinigt hatten, nur die Remissionswerte (also das Erreichen von Symptomfreiheit) der depressiven Patienten darzustellen. (Anders gefragt: Kennen die 26 Professoren den Unterschied nicht?). Aber selbst wenn man annimmt, dass in der S3-Leitlinie lediglich das Wort vertauscht wurde, findet man bei leichten Depressionen immer besonders hohe Remissionsraten – egal ob mit oder ohne Medikament.

Update Mai 2016: Die Leitlinie Unipolare Depression 2.0 liegt mittlerweile in der Revisionsfassung 3.0 vor. Noch immer findet sich das Wort „Response“ im Zusammenhang mit der Star*D Studie. Wir korrigieren unsere Einschätzung vom Oktober 2015. Damals dachten wir noch, es läge ein Versehen vor. Sechs Monate später müssen wir vermuten, dass der Mensch, der die S3-Leitlinie geschrieben hat, tatsächlich nicht den Unterschied von Response und Remission kennt und dass die anderen Psychiater, die unterschrieben haben, die Studie nicht gelesen haben. Denn sonst hätte wenigstens einer den Fehler bemerkt. Wenn man sich vergegenwärtigt, welchen Stellenwert eine S3 Leitlinie in der medizinischen Versorgung der BRD hat, ist es wirklich erstaunlich welche Nachlässigkeit hier vorherrscht.

Es erstaunt zudem, dass die wissenschaftlich tätigen deutschen Depressionsexperten die wissenschaftliche Kritik an der Star*D Studie nicht kennen. Diese hat Ed Pigott ausgearbeitet. Er beklagte ebenfalls die Aufnahme von Patienten mit leichten Depressionen – kommt jedoch zu einer ganz anderen Einschätzung. Denn nach Ansicht von Pigott haben die Patienten mit leichten Depressionen das Ergebnis verfälscht, in dem sie die Remissionsrate künstlich nach oben gedrückt haben. Diese Kritik ist berechtigt.

Denn bei den Planungen zu STAR*D bestimmten die Forscher, dass nur Patienten, die einen HAM-D17 Score von mindestens 14 aufwiesen an der Studie teilnehmen durften. Die ersten Auswertungen zeigten jedoch, dass 607 Patienten einen HAM-D17 Score von unter 14 aufwiesen. Diese 607 Patienten hatten demnach eine Depression, die so „leicht“ war, dass sie nicht den Studienbedingungen entsprach. Deshalb ist der Wert von 27 Prozent Remission nach 12 Wochen Therapie wahrscheinlich zu gut ausgefallen und wäre bei korrekter Einhaltung der Studienbedingungen niedriger ausgefallen. Aber 607 Patienten sind 15 Prozent der Gesamtpatienten. Das ist kein Grund sämtlichen Ergebnissen der Studie zu misstrauen. Wurde eigentlich in diesem Artikel erwähnt, dass die Anzahl der Gesamtpatienten 4041 betrug und nicht wie in der S3 Leitlinie aufgeführt 3671?

Soweit zur berechtigten Kritik. Aber was die Autoren der Leitlinie unipolare Depression gemacht haben, geht darüber hinaus. Um der Studie ihre Glaubwürdigkeit zu entziehen, haben sie für die Leser der S3 Leitlinie entschieden, dass die STAR*D Studie noch nicht einmal für Patienten konzipiert wurde, die einen HAM-D17 Score von 14 und 15 hatten.

Die Autoren dieser S3-Leitline haben entschieden, alle Patienten aus der STAR*D herauszurechnen seien, die einen HAM-D17 Wert von 15 und darunter hatten. Das sollen 35 Prozent gewesen sein. Der Leser ist dadurch geneigt, die Ergebnisse der einzigen großen Studie ohne Pharmabeteiligung, die die Effizienz von antidepressiven Medikamenten unter naturalistischen Bedingungen ermittelt hat, nicht weiter zu diskutieren.

Wer jetzt denkt, das hier das Pipi Langstrumpf Einmaleins angewendet wurde, sei daran erinnert, dass wir über eine S3-Leitlinie reden. Diese wurde von Deutschlands wichtigster psychiatrischer Fachgesellschaft, der DGPPN, erstellt. Es handelt sich also um eine Therapieempfehlung, die das höchstmögliche wissenschaftliche Evidenzniveau aufweist. Besser geht es nicht.

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