Youtuber erklären Antidepressiva
Aktuell haben mehrere YouTuber Erklärvideos über Antidepressiva veröffentlicht.
Das zeigt: Viele Menschen haben ein Informationsbedürfnis über Antidepressiva, das über die vom Hausarzt/ Psychiater mitgeteilten Sätzchen hinausgeht.
Die meisten Aufrufe hat der Youtube Kanal maiLab der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim. Dieser Kanal gehört zur ARD und ZDF Gruppe #funk. „Antidepressiva – Ja oder Nein“ (hier die Zusatzinformationen)
Die Journalistin Mai kennt sich gut in Chemie und Biochemie aus und kann zuverlässig Evidenzen in der Wissenschaft berechnen. Antidepressiva führt sie gut ein und dann fällt der bemerkenswerte Satz: „Wir waren selbst ein bisschen überrascht, wie schlecht, die Datenlage ist.“ 17.17 Min … später mehr dazu.
Ein weiteres aktuelles, Video hat der PsychCast veröffentlicht, hinter dem die beiden Psychiater Dr. Jan Dreher und Dr. Alexander Kugelstadt stecken.
Der Text des PsychCast über Antidepressiva ist auf der PsychCast-Website veröffentlicht.
Interessant ist auch die Corona-Vorlesung des Psychiatrie Professors Gerhard Gründer: Antidepressiva: Wirksamkeit (Sommersemester 2020)
Meine Persönliche Empfehlung ist der Habilitationsvortrag von Prof. Michael Hengartner aus Zürich
Doch zunächst zu den Informationen von maiLab:
Die Informationen sind in wissenschaftlicher Hinsicht gut recherchiert.
Aber es fehlen viele Punkte, die Patienten interessieren:
- Welches Medikament gilt in wissenschaftlicher Hinsicht am effizientesten (am wirksamsten)?
- Von welchem Medikament sollte ich lieber die Finger lassen? Also, welche Kontra-Indikationen sind für bestimmte Antidepressiva bekannt?
- Wie lange sollte eine Behandlung mit Antidepressiva dauern?
- Wie wahrscheinlich ist der Eintritt einer Besserung, wenn ich mich für eine Therapie mit Antidepressiva entscheide?
Interessant ist sicherlich, dass Mai zum Thema Wirksamkeit der Antidepressiva erklärt:
„Wir waren selbst ein bisschen überrascht, wie schlecht, die Datenlage ist.“
Mai Thi Nguyen-Kim von maiLab auf 17.20min
Sehr schön ist ihre Entlarvung des von Psychiatern am häufigsten vorgebrachten Arguments für Antidepressiva:
„Die Studienlage mag unklar sein, aber in der Praxis sehen wir doch ganz deutlich das Antidepressiva – wenn auch nicht allen, einigen Menschen sehr klar helfen. Und das ist doch das, was zählt.“ 17min47s
dieses Argument wird wissenschaftlich dort einordnet, wo es hingehört: auf eine Stufe mit den Aussagen von Homöopathen und anderen Alternativmedizinern, die genau dasselbe über Ihre Wirkstoffe behaupten: Wir behandeln mit diesem Mittel, weil es wirkt und die Studienlage ‚ist uns egal‘. – Also, ein Psychiater oder Hausarzt, der erklärt, ich verschreibe Antidepressiva, weil sie helfen, steht wissenschaftlich auf derselben Stufe wie ein Magnetisierer oder ein Schröpfer.
Aber …
Dennoch sind wir von den Aussagen der promovierten Chemikerin enttäuscht. Wir hätten eine exaktere Analyse der biochemischen Prozesse erwartet:
Ein Chemiker interessiert sich für die stoffliche Natur eines Prozesses. In biochemischer Hinsicht bedeutet das: Welche Moleküle sind für den Prozess verantwortlich? Oder wie verändern sich bestimmte Stoffe bei dem zu untersuchenden Prozess.
Dann hören wir: Mai sagt: „Die Biochemie einer Depression ist unbekannt“ (Link).
Was bedeutet das denn nun genau in chemischer Hinsicht? Es bedeutet es ist kein einziger „biochemischer Stoff“ im Gehirn oder Körper bekannt, der bei einer Depression in eine bestimmte Richtung verschoben oder verändert ist.
Das macht Antidepressiva für Chemiker schwer fassbar.
Denn in jeder Tablette steckt ein bestimmtes Molekül, das man den Wirkstoff nennt.
Dieses Molekül reagiert mit einer Zielstruktur, dem sogenannten Target und natürlich verändert der Wirkstoff das Target bei der Reaktion. So etwas kann man auch immer messen. Bei Schmerzmitteln reagiert der Wirkstoff der Tablette mit Opiatrezeptoren, bei Bluthochdruckmitteln wird der Widerstand von Gefäßwänden verringert …
Aber was passiert bei antidepressiven Medikamenten?
Tatsächlich haben die Medikamente alle irgendeine biochemische Wirkung:
- Entweder erhöhen sie die Serotonin-Konzentration (Citalopram, Escitalopram, Sertralin, Fluoxetin, Paroxetin etc.)
- Oder sie senken die Serotonin-Konzentration (Tianeptin)
- Oder sie erhöhen die Serotonin und die Noradrenalin-Konzentration (Venlafaxin, Duloxetin)
- Oder sie erhöhen die Noradrenalin-Konzentration (Bupropion) und machen nichts an den Serotonin-Rezeptoren
- Oder sie wirken blockierend auf die Serotonin 2A-Rezeptoren und wirken auf Histamin H1-Rezeptoren (Trazodon)
- Oder sie blockieren nur die Histamin H1-Rezeptoren (Mirtazapin)
- oder sie wirken ganz anders (Agomelatin)
Antidepressiva sind also ein bunter Strauß an Molekülen, die viele Wirkungen haben können oder auch das Gegenteil bewirken. Eine gemeinsame Komponente oder ein einheitlich vorkommendes Wirkprinzip besitzen die als Antidepressiva zugelassenen Substanzen nicht.
Das macht die Sache kompliziert. Denn wenn kein biochemisches Erklärmodell vorhanden ist, dann ist jeder Wirkstoff ein „Schuss ins Dunkle“. Das bedeutet: Jede verordnete Tablette ist ein Zufallsexperiment mit ungewissem Ausgang.
Für Chemiker bedeutet das:
Da unbekannt ist, welches biochemische Ziel bei der Bekämpfung einer Depression angesprochen oder verändert werden soll, kann ein Chemiker keine Empfehlung für einen Stoff oder ein Medikament aussprechen, auch wenn es den schönen Namen „Antidepressivum“ trägt.
Mit der folgenden Patientenfrage kann daher jeder einen „biologisch“ argumentierenden Depressionsexperten entlarven:
Herr Doktor, können Sie mir bitte erklären, was das Medikament in meinem Gehirn macht, damit meine Depression endet.
Die entlarvende Patientenfrage.
Die einzige ehrliche Antwort darauf lautet: Das weiß ich auch nicht und ich kann auch nicht vorhersagen, ob die Tabletten ihre Depression beenden werden. Es gibt zwar ein paar Ideen über Mechanismen, aber leider konnte keine dieser Ideen bewiesen werden. Wir wissen nicht, welcher Stoff oder welche Stoffgruppen für die Ausbildung einer Depression verantwortlich sind. Insofern bleibt mir nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass bei Ihnen nach der Einnahme des Medikaments eine Besserung eintritt. Aber leider gilt das Gesagte auch für die möglichen Nebenwirkungen. Denn das Medikament, das ich ihnen verschreibe besitzt auch Nebenwirkungen. Es ist möglich, dass eine Wirkung auf die Depression ausbleibt, sie jedoch trotzdem unter den Nebenwirkungen des Medikaments leiden. Diese Nebenwirkungen können schwerwiegend sein und dennoch kann ich auch in diesem Fall nur hoffen, dass bei Ihnen eine solche Wirkung nicht eintritt.
Und damit kommen wir zum größten Kritikpunkt am maiLab-Beitrag:
Es fehlt der Punkt Risikoabschätzung.
Wenn unklar ist, was das Medikament im Gehirn der Patienten anrichtet und nur überraschend wenige Menschen von dem Medikament profitieren, wohingegen Nebenwirkungen zuverlässig auftreten (die Nebenwirkungen erklärt der PsychCast):
Dann muss eine Risikoabschätzung erfolgen, bei der die möglichen Schädigungen (Nebenwirkungen) dem möglichen Nutzen gegenüber gestellt werden (dazu gab es eine interessante wissenschaftliche Debatte in London).
Und dafür gibt es eine gute wissenschaftliche Methode: Die NNT. Die Number needed to treat.
Damit wird in der Medizin die Anzahl der Patienten angegeben, die man behandeln muss, damit ein einziger Patient am Ende besser dasteht, als wenn er nur ein Placebo (also eine Zuckertabletten ohne Wirkstoff) erhalten hätte.
Die NNT beträgt bei Antidepressiva 9 (Link)
Hengartner und Plöderl im Jahr 2019 in Frontiers in Psychiatrie
Das heißt, man muss neun depressive Patienten mit Antidepressiva behandeln, damit es einem Patienten besser geht, als wenn er anstelle von Antidepressiva nur Placebo-Tabletten eingenommen hätte.
Wer diese Information besitzt, kann sich für eine Therapie mit Antidepressiva entscheiden. Dann ist das die individuelle Entscheidung des gutinformierten Patienten (Link: Welche Nebenwirkungen sind bei Antidepressiva zu erwarten?)
Den PsychCast empfehlen wir gerne, weil er häufige Nebenwirkungen anspricht, allerdings etwas zu wenig über die sexuellen Funktionsstörungen aufklärt, zu denen auch häufig Impotenz und vollständiger Libidoverlust zählt, was eine Partnerschaft auf Dauer sehr belasten kann.
Leider müssen wir auch den PsychCast kritisieren, denn die beiden Psychiater erklären, sie würden über bessere Informationen über die Wirkungsweise von Antidepressiva verfügen. Aber welche Informationen sind das?
Hier wollen wir gerne wieder chemisch argumentieren: Wenn ein Patient jeden Tag ein antidepressives Medikament einnimmt, soll sich zwischen Tag 11 und Tag 21 das Wunder der Wirkung einstellen. Denn zu diesem Zeitpunkt soll die antidepressive Wirkung eintreten (übrigens gilt das unabhängig davon, welches Mittel verschrieben wurde – was Chemiker sehr wundern dürfte. Also die Theorie von antidepressiven Medikamenten besagt: Obwohl es sich um vollständig unterschiedliche Wirkstoffe handelt, entfalten diese eine gleichartige Wirkung und zwar immer in derselben Zeitspanne …).
Wer behauptet, er wüsste, welche stofflichen Veränderungen sich bei dem gebesserten Patienten ereignen, führt seine Patienten in die Irre. Das hätte in den Videos angesprochen werden können. Wird es aber leider nicht.
Wer wissen will, wie angehende Mediziner aktuell an der Universität über Antidepressiva informiert werden, kann sich die Videos von Professor Gründer ansehen, die dieser anlässlich des Corona-Semesters angefertigt hat.
Wer Wissenschaft in einer Form erleben möchte, in der es um die kritische Überprüfung der Wirklichkeit geht, dem empfehlen wir den Habilitationsvortrag von Prof. Michael Hengartner.
An einer Habilitation arbeitet ein Wissenschaftler viele Jahre. Manchmal erklären Wissenschaftler ihre Arbeit dann so unverständlich, dass keiner mehr weiß, worum es eigentlich geht. Es ist die besondere Kunst von Hengartner, dass er das Thema Antidepressiva so verständlich und klar darstellt, dass auch Nicht-Fachleute seinen Ausführungen folgen können.
Depression-Heute: Wir freuen uns, dass sich jetzt mehr Menschen online über Antidepressiva informieren. Mehr Aufklärung erhöht die Wahrscheinlichkeit die richtige Wahl für oder gegen eine Therapie zu treffen.
Lieber Herr Dr. Ansari,
vielen Dank für diesen wichtigen Beitrag. Ich habe das Video von maiLab ebenfalls gesehen und dazu einen Beitrag verfasst, weil überhaupt nicht auf die Absetzproblematik eingegangen wird. Ich habe Mai angeschrieben und darum gebeten ein Video dazu zu machen. Allerdings erwarte ich nicht, dass dies geschieht. Umso mehr freut es mich, dass Sie sich mit dem Beitrag wissenschaftlich auseinandergesetzt haben und ich stimme Ihren Kritikpunkten vollkommen zu. Meinen Beitrag können Sie hier lesen: https://die-psychopharmaka-falle.de/kritik-zum-beitrag-antidepressiva-ja-oder-nein-von-mailab
Herzliche Grüße
Markus Hüfner