Wenn Antidepressiva töten – ein tragischer Fall in Zürich [Gesundheitstipp]

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In der September-Ausgabe des Schweizer Magazins „Gesundheitstipp“ berichtet Redakteur Andreas Gossweiler über das Tabu-Thema: Tod durch Antidepressiva:

«Anatol hätte man retten können»

Depressionen: Pierre Schauwecker verklagte nach dem Tod seines Sohnes die Psychiatrische Uniklinik

Eine Psychiaterin gab einem jungen Mann ein Mittel gegen Depressionen nach Hause mit. Kurz darauf nahm er sich das Leben. Jetzt kritisieren Fachleute: Solche Medikamente erhöhen das Suizidrisiko.

Der 29-Jährige Anatol Schauwecker geriet im Frühling 2017 in eine Lebenskrise.

Zum Gesundheitstipp 09/2019

Sein Vater Pierre Schauwecker erinnert sich: «Anatol fühlte sich verloren und minderwertig. Es ging ihm immer schlechter.» Anfang April meldete er sich beim Kriseninterventionszentrum der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Erst vier Tage später bekam er einen Termin.

Eine Ärztin stellte beim Patienten eine mittelschwere Depression fest. Sie verschrieb ihm das Antidepressivum Sertralin. Am nächsten Morgen schluckte Anatol Schauwecker die erste Sertralinpille. Am selben Abend stürzte er sich in den Tod. Dieser tragische Fall verwundert Fachleute nicht. Immer mehr kommt aus: Patienten, die Antidepressiva einnehmen, begehen öfter Suizid.

Eine neue Studie von Forschern aus der Schweiz und Österreich zeigt:

Antidepressiva erhöhen das Suizidrisiko um mehr als das Doppelte. 31 000 Leute nahmen an der Studie teil. Bereits 2005 kam eine vergleichbar große Übersichtsstudie im «British Medical Journal» zum gleichen Schluss.

«Angst und innere Unruhe sind ein Warnsignal»

Der deutsche Depressionsforscher und Buchautor Peter Ansari sagt: «Medikamente gegen Depressionen steigern häufig den Antrieb.» Dies führe bei manchen Patienten dazu, dass sie Suizidgedanken verwirklichen.

Der deutsche Pharmakologe Bruno Müller-Oerlinghausen betont, schon die Einnahme einer einzigen Tablette könne das Suizidrisiko erhöhen. Angst und innere Unruhe seien ein Warnsignal.

Auch das Zürcher Obergericht hat sich mit dem Fall Anatol Schauwecker befasst. Im März 2018 kam es zum Schluss: Es sei «nicht auszuschließen», dass das Medikament Sertralin ausschlaggebend für den Suizid des 29-Jährigen war.

Pierre Schauwecker wirft der Psychiatrischen Universitätsklinik vor, sie habe in der Behandlung Fehler gemacht: «Anatol hätte man retten können. Aber er erhielt in seiner schweren Not keine Hilfe.»

Schauwecker kritisiert, die Ärztin habe seinen Sohn nicht über das erhöhte Suizidrisiko informiert. Indem sie Anatol für eine Woche krank schrieb, habe die Ärztin in Kauf genommen, dass er zu Hause alleine war. Sie habe es versäumt, Verwandte oder Freunde zu kontaktieren, um sicherzustellen, dass jemand nach dem Patienten schaue.

«Die Ärztin hat uns nicht informiert», sagt Pierre Schauwecker. Fachleute unterstützen die Kritik des Vaters. Forscher Peter Ansari sagt: «Der beste Schurz vor Suizid ist, dass die gefährdete Person nicht allein ist.» Ansari kritisiert, die Behandlung im Kriseninterventionszentrum habe sich «auf die Herausgabe des Medikaments beschränkt». Das Umfeld eines Patienten zu aktivieren, ist laut Ansari «wertvoller als jedes Medikament».

Die Psychiatrische Universitätsklinik nimmt zum Tod von Anatol Schauwecker nicht Stellung. Sie verweist auf das Urteil des Obergerichts. Dieses entschied, es gebe keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Ärztin ihre Sorgfaltspflicht verletzt habe.

Studie: Kaum wirksamer als Scheinmedikamente

Antidepressiva stehen nicht nur in der Kritik wegen der Nebenwirkungen, auch der Nutzen der Medikamente ist unklar. Eine neue Übersichtsstudie im «British Medical Journal» mir über 100000 Patienten zeigt: Antidepressiva wirken kaum besser als ein Scheinmedikament.

Dennoch verschreiben immer mehr Ärzte Antidepressiva. ln den letzten acht Jahren stieg in der Schweiz die Anzahl der verkauften Packungen von 3,20 auf 3,66 Millionen. Der deutsche Psychiater und Buchautor Tom Bschor sagt: «Antidepressiva werden eindeutig zu häufig und zu lang verschrieben.» Bschor empfiehlt sie einzig bei einer schweren Depression.

Sertralin Hersteller Pfizer wollte sich zum Fall nicht äußern. Die Firma GSK stelle ebenfalls Antidepressiva her und schreibt: Bei Depressiven könnten Suizidgedanken unabhängig davon auftreten, ob sie ein Medikament einnehmen oder nicht. Laut Pharmafirma Eli Lilly ist nicht bewiesen, dass Antidepressiva die in den Studien erwähnten Suizide verursachten.

Und der Pharmaproduzent Mylan schreibt, die Heilmittelbehörde Swissmedic habe bestätigt, dass ihr Medikament gegen Depressionen wirke.

Andreas Gossweiler

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One Comment

  1. Ich würde eher sagen, der sicherste Schutz vor Suizid ist (bei einigen Menschen), diese Medikamente nicht zu verschreiben.

    Man kann doch eine Person nicht ständig überwachen.

    Ich habe meine Suizidversuche von einer geschlossenen Psychiatrie-Station aus gemacht. Manche auch in der Station.
    Das Personal wollte nur wissen, ob ich in DEM MOMENT gerade nicht suizidal sei, was ich jedesmal fälschlicherweise verneint habe, und schon durfte ich wieder ohne Aufsicht in den Ausgang. Dort begang ich Suizidversuche, zu denen ich durch die Medikamente getrieben wurde.

    Ich war während der gesamten Einnahme-Zeit chronisch suizidal, insofern hätte ich eine 24-Stunden-Überwachung gebraucht. Wenn die Medikamente nicht nach 3 Jahren endlich abgesetzt worden wären, hätte ich eine lebenslange 24-Stunden-Überwachung gebraucht. Jedoch hätte das die medikamenteninduzierte Suizidalität auch nicht beseitigt oder gemildert.
    Es haben sich ja sehr viele Menschen um mich gekümmert und sich gesorgt. Manche waren regelrecht verzweifelt, warum es mir so schlecht geht. Ich habe sogar das Pflegepersonal in der Klinik gebeten, mich zu töten.

    Das hätte alles nicht passieren müssen, wenn ich erst gar nicht solche Medikamente bekommen hätte.

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