Rezension: Serotonin von Michel Houellebecq – wissenschaftlich

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der neue Houellebecq ist unangepasst, unanständig und stimmt sehr nachdenklich. Depression-Heute beschränkt sich hier auf die Aussagen zu Serotonin – in wissenschaftlicher Hinsicht.

Warum heißt der Roman Serotonin?

Houellebecq hat sich für den Roman ein neuartiges Antidepressivum ausgedacht, das den Namen Captorix trägt. Es erhöht die Serotoninkonzentration im Körper. Die Hauptfigur des Romans, der 46-jährige Florent-Claude Labrouste, ein Berater im Landwirtschaftsministerium, nimmt dieses Medikament jeden Morgen ein.

Dieses Medikament, schreibt der Autor, wäre „erstaunlich wirksam und erlaubte den Patienten, mit einer neuen Leichtigkeit an den entscheidenden Riten eines normalen Lebens innerhalb einer hochentwickelten Gesellschaft teilzuhaben (Körperpflege, ein auf gute Nachbarschaftsverhältnisse beschränktes Sozialleben, simple Behördengänge), ohne dabei im Gegensatz zu Antidepressiva der vorherigen Generation den Hang zu Selbstmord oder Selbstverstümmelung zu verstärken.

Für den Wirkmechanismus hat er sich folgendes ausgedacht:

„Die ersten bekannten Antidepressiva (Seroplex, Prozac) erhöhten den Serotoninspiegel im Blut, indem sie die Serotoninwiederaufnahme durch die 5-HT1-Rezeptoren hemmten. Die Entdeckung von Capton D-L im Jahr 2017 ebnete einer neuen Generation von Antidepressiva mit einer letztlich einfacheren Verfahrensweise den Weg, bei der es darum geht, mittels Exozytose die Freisetzung des in der Magenschleimhaut gebildeten Serotonins zu befördern.“ [Kleine Anmerkung: Seroplex ist nicht gut übersetzt, müsste in Deutschland Escitalopram heißen. Falsch dargestellt ist zudem, dass die alten Medikamente die 5-HT1-Moleküle hemmen. Richtig ist vielmehr, dass Prozac, Escitalopram und die anderen SSRI-Medikamente die 5-HTT Moleküle blockieren, also die Serotonintransporter, wodurch die Wiederaufnahme des Stoffes an der Präsynapse verhindert wird. Dies geschieht nicht nur im Magen-Darm-Bereich, sondern auch im Gehirn.]

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Depression-Heute: Der im Buch dargestellte Wirkmechanismus kann nicht funktionieren. Selbst wenn man an den widerlegten Mythos glaubt, eine Depression würde durch mehr Serotonin enden, könnte die Magenschleimhaut diese Erhöhung nicht verursachen.

Das lässt die Bluthirnschranke in unserem Kopf nicht zu. Diese Struktur schützt das Gehirn vor unerwünschten oder unbekannten Substanzen. Sie lässt, genau wie ein Türsteher vor einem exklusiven Club, nur sehr wenige auserwählte Moleküle ins Innere. Ein so stark polar aufgebautes Molekül, wie das Serotonin-Molekül, hat keine Chance an dieser Stelle Einlass zu erhalten. Aus diesem Grund basieren die meisten Nahrungsergänzungszusätze, die den Serotoninspiegel im Gehirn erhöhen sollen, auf L-Tryptophan, das ist die Vorstufe von Serotonin. Dieses Produkt kann die Bluthirnschranke passieren und anschließend im Gehirn zu Serotonin umgewandelt werden.

Allerdings nimmt das Gehirn nur sehr, sehr wenig L-Tryptophan über das Blut auf. Serotoninforscher, wie der Berliner Professor Michael Bader bezweifeln, dass es gelingen kann, mit Nahrungsergänzungsmitteln, die L-Tryptophan enthalten, die Serotoninkonzentration im Gehirn nennenswert zu erhöhen.

Doch genau diesen Weg der Serotoninerhöhung über den Verdauungstrakt (also Exocytose im Magen heißt: Es gibt mehrere serotoninproduzierende Zellen im Magen, die dort Serotonin freisetzen) beschreibt Houllebecq. Die Vermutung dahinter: Serotonin würde wie ein Hormon weit entfernt von seinem Produktionsort im Magen/Darm in das Gehirn transportiert werden und dort ein Wirkung entfalten – ist auch aus einem weiteren Grund physiologisch unmöglich: Serotonin wird – sobald es im Körper frei herumschwimmt von der Monoaminooxidase zerstört – es kann daher nur dort, wo es freigesetzt wird, eine Wirkung entfalten. Und nicht zuletzt: Serotonin wird sogar im Gehirn von einem anderen Enzym hergestellt, als im Magen-Darmbereich. In physiologischer Hinsicht ist also alles etwas komplizierter.

Dennoch beschreibt Houllebecq vieles sehr realitätsnah:
Die Nebenwirkungen:
„Die bei Captorix am häufigsten beobachteten unerwünschten Nebenwirkungen waren Übelkeit, Libidoverlust, Impotenz. Unter Übelkeit habe ich nie gelitten.“

Es folgt der Niedergang der Hauptfigur.

In einer etwas späteren Passage erklärt Houllebecq über die Funktionsweise:
„Das Captorix wirkte über erhöhte Serotoninausschüttung, aber die Informationen, die ich im Internet über die Auswirkungen der Hormone auf die Funktion der Psyche finden konnte, machten einen konfusen und inkohärenten Eindruck. Es gab einige vernünftige Anmerkungen im Sinne von: »Ein Säugetier entscheidet nicht jeden Morgen nach dem Aufwachen, ob es bei der Gruppe bleibt oder sich entfernt und sein Leben allein bestreitet«, oder auch: »Ein Reptil empfindet keinerlei Bindung zu anderen Reptilien; Echsen vertrauen anderen Echsen nicht.« Genauer betrachtet, war das Serotonin ein Hormon, das mit dem Selbstwertgefühl verknüpft war, mit der Anerkennung seitens der Gruppe. Aber davon abgesehen, wurde es prinzipiell im Magen-Darm-Trakt erzeugt, und es ließ sich bei sehr vielen Lebewesen nachweisen, einschließlich der Amöben. Auf was für ein Selbstwertgefühl konnten sich Amöben denn schon berufen? Auf was für eine Anerkennung seitens der Gruppe? Die sich nach und nach abzeichnende Schlussfolgerung lautete, dass die Kunst der Medizin auf diesem Gebiet verworren und vage blieb und dass die Antidepressiva zu den zahlreichen Medikamenten gehörten, die wirkten (oder auch nicht), ohne dass man genau gewusst hätte, warum.“

Depression-Heute: Tatsächlich ist diese Beschreibung des veränderten Selbstwertgefühls der heute allgemeingültige Serotonin-Blödsinn. Wie so oft, möchte man einem Stoff, dem man vorher alles mögliche zugedichtet hat, zum Beispiel, ein „Glückshormon“ zu sein, auch heute noch eine Funktion zuordnen. Doch dabei gibt es ein Problem. Und an dieser Stelle kommt wieder der Berliner Serotoninforscher Michael Bader ins Spiel. Bader hat mit gentechnischen Methoden Mäuse erzeugt, die gar kein Serotonin im Gehirn haben. Und diese Mäuse haben ein Sozialleben und sind fortpflanzungsfähig. Und das weist daraufhin, dass Serotonin zwar in allen Lebewesen vorhanden ist, jedoch in höheren Lebewesen keine eindeutige Funktion mehr hat. Für die Gruppenzugehörigkeit und die Fähigkeit jemandem zu vertrauen ist jedenfalls das Hormon Oxytocyn wichtig. Viele populärwissenschaftliche Berichte basieren auf einer Verwechselung von Oxytocyn und Serotonin. Es ist zwar für manche Mäuse beschrieben, dass ein Mangel an Serotonin die Tiere aggressiv und hypersexuell macht, aber es ist unklar, ob im Umkehrschluss gilt, dass nur das Vorhandensein von etwas mehr Serotonin die Tiere friedlicher und „gesellschaftsfähiger“ macht. Die Experimente von Bader sprechen jedenfalls deutlich gegen den Umkehrschluss.

Doch natürlich geht es nicht nur um Wissenschaft. Houellebecq schreibt: Selbst wenn es mit diesem Stoff gelingt, die Widrigkeiten des Lebens besser zu ertragen und die Hauptfigur dadurch „von allen Begierden und allen Gründen zu leben befreit“ ist, bleibt dennoch ein Rest an „Verzweiflung“.

Im weiteren Verlauf der Handlung erfährt die Hauptfigur, dass das Captorix andere Hormonwerte beeinträchtigt und der Patient fragt seinen Arzt:
»Also raten Sie mir, das Captorix abzusetzen?« »Nun ja … Das ist keine selbstverständliche Entscheidung. Denn wenn Sie es absetzen, wird Ihre Depression zurückkommen, sie wird sogar noch stärker zurückkommen, Sie werden zu einem regelrechten Wrack werden.“ [Schön, dass hier die Absetzproblematik von Antidepressiva einem breiten Publikum präsentiert wird!]

Er tippte kräftig auf das Blatt mit meinen Untersuchungswerten. »Sie sind gestresst, Sie sind in einem extremen Ausmaß gestresst, es ist ein bisschen, als hätten Sie einen stillen Burn-out, als würden Sie sich innerlich aufzehren. Nun ja, solche Dinge sind nicht leicht zu erklären. Außerdem ist es spät geworden …« Ich sah auf meine Armbanduhr, es war tatsächlich nach einundzwanzig Uhr, ich hatte ihm wirklich die Zeit gestohlen, …

[Der Arzt schlägt vor:]
»Ich mache Folgendes«, schloss er. »Ich gebe Ihnen ein Rezept für Captorix 10 mg, falls Sie sich entscheiden sollten, es abzusetzen – denn ich sage es noch mal, setzen Sie es nicht abrupt ab. Gleichzeitig muss man die Prozedur auch nicht unnötig kompliziert machen: Sie bleiben zwei Wochen lang auf zehn Milligramm, und dann gehen Sie auf null. Ich will Ihnen nichts vormachen, das kann hart werden, denn Sie nehmen jetzt schon lange Antidepressiva. Es wird hart werden, aber ich glaube, es ist das Richtige.« [Aber die Zeitangabe von zwei Wochen geht natürlich gar nicht. Wenn man ein Antidepressivum längere Zeit eingenommen hat, muss man viele Monate in langsamen Schritten absetzen.]

Obwohl die Hauptfigur seine Welt durch die Einnahme des Medikaments verändert wahrnimmt [Stichwort: Persönlichkeitsveränderung]: „die Welt hatte sich folglich in eine neutrale Oberfläche ohne Unebenheiten und ohne Reize verwandelt,“ entscheidet sich der Romanheld gegen das Absetzen des Medikaments:
aber das Captorix abzusetzen, und sei es nur für einen Tag, war unvorstellbar. Man darf das Leiden nicht über ein gewisses Maß steigen lassen, sonst tut man sich wer weiß was an, man kippt Rohrreiniger runter, und die inneren Organe, die aus den gleichen Substanzen bestehen, die für gewöhnlich Abflüsse verstopfen, zersetzen sich unter grauenhaften Qualen; oder man wirft sich eben vor die Metro und hat hinterher zwei Beine weniger und zerfetzte Eier, ist aber noch immer nicht tot.“ 

Den Schluss wollen wir offenlassen.

Interessant ist jedoch, dass Houellebecq eine sehr tiefsinnige Frage stellt. Er fragt den Leser, ob es die richtige Entscheidung ist, das Leben mithilfe von Tabletten in eine Abfolge von Formalitäten zu verwandeln oder ob es andere Zeichen gibt, die wir sehen könnten und die eine andere Wahl zulassen.

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