Rezension in Gehirn und Geist 07/2022

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Dr. Janosch Deeg hat „Genug Geschluckt!“ für die Gehirn und Geist Ausgabe Juli 2022 rezensiert:

Der Medikamentenfalle entfliehen

Ein Ratgeber gibt Tipps für einen sanften Entzug von Psychopharmaka

Die meisten Psychopharmaka lassen sich leicht absetzen, so heißt es. Gleichwohl berichten viele Patientinnen und Patienten von gegenteiligen Erfahrungen. Bei Antidepressiva etwa gibt es haufenweise Betroffene, die teilweise über Jahre an vielfältigen Entzugserscheinungen leiden, darunter Muskelzuckungen, Sehstörungen, Panikattacken und vieles mehr. Von Ärztinnen und Ärzten werden solche Beschwerden jedoch selten ernst genommen, obgleich ihre Existenz inzwischen durch wissenschaftliche Studien bestätigt wurde.

Seit Jahren unterstützt das Autorenpaar, der Humanbiologe Peter Ansari und die Heilpraktikerin Mahinda Ansari, Menschen mit psychischen Störungen auf ihrem Weg in die Medikamentenfreiheit. In der Regel muss dazu die Dosierung der Arznei viel langsamer reduziert werden, als Mediziner und Hersteller empfehlen. Erfolgte die Einnahme zum Beispiel schon über viele Jahre, kann sich das Ausschleichen ebenfalls über Jahre hinziehen. Ziel ist eine sanfte Entwöhnung, die verhindern soll, dass man das Mittel auf Grund von Entzugssymptomen erneut einnimmt. Denn diese werden oftmals mit dem Wiederauftreten der Erkrankung verwechselt.

Da die Medikamente üblicherweise nur in ganz bestimmten Dosierungen vertrieben werden, müssen die Betroffenen selbst aktiv werden – etwa indem sie die winzigen Wirkstoffkügelchen aus den Kapseln abzählen und nur eine gewisse Zahl davon einnehmen. Das Buch stellt verschiedene Möglichkeiten für eine stufenweise Dosisreduzierung sowie Absetzpläne vor. Zudem beantwortet es typische Fragen von Betroffenen, die während der Vorträge der Ansaris immer wieder aufkamen. Zum Beispiel »Wie kann ich Krankheitssymptome von Absetzsymptomen unterscheiden?« oder »Hat jeder, der die Psychopharmaka absetzt, Schwierigkeiten?«. Zwar werden die Antworten darauf bereits seit vielen Jahren in Betroffenenforen diskutiert, aber nirgends findet man dieses Wissen derart schön aufbereitet und zusammengefasst.

Mehr als die Hälfte des Werks beschäftigt sich allerdings nur am Rand mit dem Absetzen von Psychopharmaka und möglichen Entzugserscheinungen. Stattdessen beinhaltet es ein Sammelsurium an kurzen Beiträgen zu unterschiedlichen Aspekten, die mit dem Komplex psychische Störungen und Psychopharmaka zu tun haben – von unterschiedlichen Störungsbildern über Generika bis hin zu Risikofaktoren wie Hochsensibilität. Immer wieder schwingt hierbei ein Misstrauen gegenüber der Psychopharmakologie mit. Selbst wenn die Autoren in vielen Punkten Recht haben mögen – etwa wenn sie schreiben, dass viele Medikamente viel zu lange verschrieben werden und dabei keinen großen Nutzen haben – werden die knappen Ausführungen den mitunter extrem vielschichtigen Themen nicht gerecht. Auch die Tipps zur alternativen Behandlung von psychischen Störungen, darunter pflanzliche Wirkstoffe, Nahrungsergänzungsmittel oder Entspannungsmethoden wie autogenes Training oder Qi Gong, können Betroffenen bestenfalls als Anregung dienen, sich intensiver von Fachleuten beraten zu lassen. Der Querbeetcharakter des Buchs sollte aber diejenigen nicht abschrecken, die Psychopharmaka absetzen möchten oder dies bereits erfolglos versucht haben. Meine Empfehlung: Einfach auf diejenigen Kapitel konzentrieren, die für dieses Vorhaben äußerst wertvolle Ratschläge und Strategien bereithalten.

Janosch Deeg ist promovierter Physiker und Wissenschaftsjournalist in Heidelberg.

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