Rezension: Dr. Dieter Trautmann: Endlich ohne Antidepressiva

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Dieter Trautmann: Endlich ohne Antidepressiva

Dr. Dieter Trautmann ist Arzt, Diplompsychologe und Psychotherapeut. Er war viele Jahre leitender Oberarzt einer psychosomatischen Klinik und hat sich danach mit eigener Praxis selbständig gemacht. Antidepressiva verschreibt er noch immer. Für eine dauerhafte Lösung hält er diese Medikamente jedoch nicht. Grundsätzlich geht er davon aus, dass sich depressive Beschwerden aus unerfüllten und unheilsamen Lebensbedingungen entwickeln. Mit seinem Buch möchte er aus sogenannten depressiven Patienten „mündige Patienten machen, die mitentscheiden können und sollen, ob sie überhaupt ein Antidepressivum nehmen.“ (S. 7)

„kein genereller Gegner der Antidepressiva“

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, schreibt er bereits im Vorwort: „Ich bin kein genereller Gegner der Antidepressiva und deren Einnahme“ und erläutert später: „Es sind wie gesagt etwa 20 Präparate auf dem Markt. Da ist mit Sicherheit eines dabei, das auch für dich passt. … Antidepressiva können dir eine gewisse Zeit helfen, eine schwierige Situation zu überstehen.“ (S. 63) Auf Seite 35 grenzt er diese „gewisse Zeit“ ein: „Bis die psychotherapeutischen Maßnahmen wirken, kann es doch noch einige Zeit dauern. In diesen Überbrückungsphasen können Antidepressiva hilfreich sein – aber sie sind keine Dauerlösung.“ (S. 35)

Trautmanns Kenntnis der verschiedenen Antidepressiva dokumentiert er durch Kurzbeschreibungen einiger Substanzen im Anhang, die auf persönlichen Beobachtungen basieren. Wissenschaftliche Literatur diskutiert er nicht, was nicht von Nachteil ist. Trautmann versucht sich nicht hinter einer „Objektivität“ zu verstecken, die es in der Psychiatrie, einer Wissenschaft, die keine Biomarker kennt, auch nicht geben kann. Er erklärt dem Leser ganz offenherzig: „Leider weiß man als Psychiater im individuellen Fall nie, welches der etwa 20 verschiedenen Antidepressiva … dem konkreten Patienten am ehesten hilft und am wenigsten schadet.“ (S. 55).

Spricht verbreitete Probleme an: „Besonders bei Frauen ist die häufig zu beobachtende Gewichtszunahme ein großes Problem.“ (S. 56) Erwähnt sexuelle Probleme, die von den Medikamenten verursacht werden und benennt Patienten, bei denen die Medikamente ganz anders wirken, als im Beipackzettel aufgeführt: „Es gibt hochsensible Menschen, die bereits auf äußerst geringe Dosen reagieren.“ (S. 57)

Insgesamt stört ihn an den Medikamenten am meisten, dass sie maßlos überschätzt werden und niemals das eigentliche Problem des Patienten lösen: „Aber es muss klar sein, dass das Antidepressivum in den allermeisten Fällen die Ursache der Depression nicht verändert.“ (S. 39)

Grundsätzlich würden ohnehin viel zu wenige Menschen von diesen Mitteln profitieren Trautmann schätzt, „dass die Antidepressiva offensichtlich nur bei ungefähr 40 Prozent der damit behandelten Menschen überhaupt einen positiven Effekt haben.“ (S. 27) Auf der anderen Seite gäbe es „30 Prozent, die auf die Behandlung nicht ansprechen.“ (S. 28) Seiner Ansicht nach sollten die Mittel nur bei „schätzungsweise fünf Prozent der depressiven Menschen“ angewendet werden aber „daran würde wie beschrieben die Pharmaindustrie nicht ausreichend verdienen“ (S. 26).

Er fragt den Leser (den er in dem Buch mit „du“ anspricht): „Würdest du bei anderen Krankheiten ein Medikament nehmen, dass nur mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit hilft, aber in vielen Fällen mit Nebenwirkungen verbunden ist?“ (S. 29) Und „Würdest du dich in einen Flieger setzen, der eine Absturzwahrscheinlichkeit von bis zu zwei Prozent hat?“ (S. 45) Damit umschreibt er das Risiko sehr schwere Nebenwirkungen zu erleiden. Er fasst zusammen: „Letzten Endes bedeutet die Frage, ob ich ein Antidepressivum nehme oder nicht, immer ein Abwägen von möglichem Nutzen gegenüber möglichem Schaden. Diese Bilanz sieht für die meisten Antidepressiva nicht besonders gut aus … . Das bedeutet für dich, dass du als Patient auf jeden Fall die Entscheidung mittragen musst“ (S. 44).

Antidepressiva schaden den Patienten seiner Ansicht in vielen Fällen:

  • „Antidepressiva schaden, wenn sie verhindern, dass notwendige Veränderungen geschehen.“ (S 51)
  • „Antidepressiva sind auch dann schädlich, wenn die Diagnosen, für die sie prinzipiell hilfreich sein könnten, gar nicht zutreffen.“ (S. 52)
  • „Ich sehe es geradezu als Behandlungsfehler an, wenn jemand versucht, Trauer mit einem Medikament zu dämpfen.“ (S. 49)
  • „Antidepressiva sind auch dann schädlich, wenn die Nebenwirkungen ganz im Vordergrund stehen – bei kaum erkennbarer positiver Wirkung. Viele Patienten – und leider auch viele Kollegen – halten trotzdem oftmals über Jahre in der oft unbegründeten Hoffnung an einer Medikation fest, diese müsse doch irgendwann mal wirken.“ (S. 53)
  • „Das besonders Prekäre an dieser Situation ist: Da die Antidepressiva nicht wirken, werden sie immer höher dosiert, was letztlich die Nebenwirkungen verschlimmert.“ (S. 52)

Trautmann stößt sich an der Bezeichnung „Antidepressiva“: „Der Name Antidepressivum ist eigentlich nicht zutreffend, denn mittlerweile werden nicht nur depressive Störungen damit behandelt, sondern wie erwähnt auch Angststörungen, Zwangsstörungen, Essstörungen und chronische Schmerzen. Es sind also keine Medikamente, die spezifisch an einer depressiven Stimmung etwas verändern.“ (S. 54)

Er hadert nicht nur mit dem Namen „Antidepressivum“, auch die Diagnose „Depression“, die aktuell aus einer Zusammenfassung einzelner Symptome besteht, ist seiner Ansicht nach in medizinischer Hinsicht „nicht hilfreich“. „Denn eine Diagnose dient in der Medizin dazu, eine Erklärung für Symptome zu liefern und die Behandlung in eine bestimmte Richtung zu lenken.“  (S. 18) Bei der aktuellen Diagnose „Depression“ ist jedoch der Bereich der Entstehung gestrichen, wodurch es für die Therapie strittig ist, ob überhaupt an Ursachen gearbeitet werden muss.

Für Trautmann ist das ein gravierender Fehler. Als überzeugter Verhaltenstherapeut geht er davon aus, depressive Patienten müssen an den Situationsbedingungen arbeiten, die zur Entstehung der Erkrankung geführt haben. „Lerne neue Fähigkeiten, die dich in die Lage versetzen, deine Situationsbedingungen zu ändern“ (S. 67), erklärt er den Grundsatz seiner Therapieschule.

Man kann Trautmanns Buch als Verhaltenstherapie verstehen, die dem Leser helfen soll, realistische und erwachsene Entscheidungen zu treffen, um sich von kindlichem Wunschdenken zu befreien. Das betrifft natürlich nicht nur die Entscheidung für oder gegen Antidepressiva, sondern dazu gehört auch das Erkennen der Ursachen, die zur Entstehung der Depression geführt haben.

Trautmann gibt dem Leser mehrere Methoden und einige Bilder an die Hand, mit denen dieser gegen seine automatischen Prozesse ansteuern kann. Vieles ist hilfreich, manches originell: Das Prinzip der Aufmerksamkeit/Achtsamkeit erklärt er anhand eines Fernsehers: „Das Gehirn funktioniert ähnlich einem Fernsehgerät, außer dass es keinen Ein-Aus-Schalter gibt. Das „innere Ich“ ist so etwas wie die Fernbedienung. Damit bestimme ich, auf welchen Sender (Gefühl, Gedanke) ich meine Aufmerksamkeit richten möchte. Ich schalte damit die anderen Kanäle nicht ab, sie laufen im Hintergrund immer alle weiter. Mit der Fernbedienung kann ich also nicht bestimmen, welche Programme gerade überhaupt laufen. Ich kann damit nur auswählen, welches Programm ich mir jetzt anschauen möchte. Abschalten funktioniert nicht. … je mehr du versuchst, ein Gefühl oder einen Gedanken weghaben zu wollen, umso mehr klebt deine Aufmerksamkeit daran fest.“ (S. 118)

Der Kerngedanke des Buches ist, wenn man einem depressiven Patienten die Medikamente wegnimmt, dann ist damit die Krankheit nicht verschwunden.

„Depression ist nicht als Krankheit zu sehen, die unbedingt medikamentös behandelt werden muss (aber kann). Es geht vielmehr um einen traumatisierten Persönlichkeitsanteil in dir.“ (S. 159)

Um dauerhaft ohne Medikamente zu leben, muss man eine gewisse Klarheit über sich und seine Gefühle erreichen und erkennen, weshalb man in depressive Denkmuster verfällt und wie man das (ver)ändern kann. Das verdeutlicht Trautmann dem Leser sehr gut.

Weniger gut gelingt es ihm aufzuzeigen, wie man die Medikamente loswird. Dabei ist nicht nur problematisch, dass er eine Abhängigkeit von Antidepressiva verneint: „Um es noch einmal klar zu sagen: Antidepressiva verursachen keine körperliche Abhängigkeit, aber die Psyche gewöhnt sich daran, ständig in Watte gepackt zu sein.“ (S. 167)

Diesen Gedanken präzisiert er noch an anderer Stelle:

„Es entsteht zwar keine körperliche oder psychische Abhängigkeit von Antidepressiva, trotzdem können manche von ihnen massive Probleme verursachen, wenn ein Absetzversuch unternommen wird.“ (S. 161) Das erscheint wie nicht ganz zu ende gedacht. Denn, was verursacht dann diese Probleme?

Aus seinen praktischen Erfahrungen berichtet er: „Duloxetin, Paroxetin und Venlafaxin – führen bei manchen Menschen zu sehr unangenehmen körperlichen Absetzphänomenen, für die es keine gute medizinische Erklärung gibt.“ (S. 165) – Hier möchte man ihm am liebsten zurufen: Doch, die gibt es, es handelt sich um Absetzphänomene, also neuartige Symptome, die der Patient vorher nicht kannte und die erstmals aufgetreten sind, als der Patient sein Medikament abgesetzt hat. Aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs kann man diese auch als „Entzugssymptome“ bezeichnen das ist natürlich ein Kennzeichen dafür, dass der Patient zuvor eine Abhängigkeit entwickelt hat.

Wenig erfolgsversprechend erscheint leider auch seine Methode des Absetzens. Er schlägt vor, die Medikamente als Lösung einzunehmen und tröpfchenweise zu reduzieren. Dann sollte zunächst an einem Tag in der Woche der Wirkstoff nicht genommen werden und nach einiger Zeit, sollte der Patient das Medikament an mehr als nur einem Tag in der Woche nicht einnehmen.

Dieses Auf und Ab mit dem Wirkstoff bringt jedoch empfindliche Gemüter leicht durcheinander und Menschen, die die Medikamente über viele Jahre genommen haben, geraten bei solchen Dosissprüngen innerhalb weniger Tage oftmals in schwierige Situationen. Leichter wird es für Patienten wenn sie schrittweise reduzieren, also wenn über lange Zeit immer dieselbe Menge Wirkstoff gegeben wird und dann alle paar Wochen ein kleiner Absetzschritt gemacht wird (Absetztreppe, Sanfter Entzug).

Das Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Es ist auf jeden Fall hilfreich für den Punkt: „Was du stattdessen tun kannst.“ Also wie man mit einer depressiven Veranlagung umgehen sollte. Aber der Punkt: „Wie und wann du sie [die Antidepressiva] absetzt“, ist nicht überzeugend gelöst.

Dr. med. Dipl.-Psych Dieter Trautmann
Endlich ohne Antidepressiva – Wie und wann du sie absetzt – was du stattdessen tun kannst
Humboldt Verlag
184 Seiten
19,99 €

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