Rezension: Psychopharmaka absetzen? von Gerhard Gründer
Gerhard Gründer ist Professor für Psychiatrie, renommierter Pharmakologe und leitender Forscher am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.
Im neuen Buch „Absetzen von Psychopharmaka?“ erteilt er seinen Kollegen ein gewaltiges Donnerwetter. Er stellt klar:
„Entzugssymptome sind nicht selten, und sie sind ebenso wenig leicht zu behandeln. Das weiß jeder, der ein offenes Ohr für Patienten hat.“ (S. 3) – Damit grenzt er sich bewusst von Ärzten ab, die behaupten: Entzugssymptome wären selten und seien gut zu behandeln. Gründer bewertet solche Aussagen als „falsch“. (S. 3) An anderer Stelle erklärt er: „Einem neueren systematischen Review zufolge leiden bis zu 40 % der Patienten nach dem Absetzen eines SSRI unter einem Absetzsyndrom (Fava et al. 2015).“ (S. 25)
Er ergänzt:
„Mit den in Deutschland verordneten Antidepressiva kann man mindestens vier Millionen Menschen das ganze Jahr über antidepressiv behandeln. Wenn man nun annimmt, dass nur ein kleiner Teil der mit Antidepressiva behandelten Patienten seine Medikamente nur deshalb immer weiternimmt, weil das Absetzen unerträglich ist – wie am Beispiel der Studentin gezeigt – dann, dürften viele Tausend Patienten mit diesem großen Problem konfrontiert sein. Sieht man sich einmal in Internetforen um, in denen sich Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen austauschen, stellt man fest, dass dem tatsächlich so ist.“ (S. 3)
Er hat kein Verständnis für Kollegen, die diese Fakten ignorieren, denn:
„Nicht über das Absetzen von Psychopharmaka zu reden, weil man fürchtet, „es könne dem Fach schaden“, schadet dem Fach. Es schadet unserer Glaubwürdigkeit, vor allem unseren Patienten gegenüber.“ (S. 4)
Vor Tabuthemen, wie der geringen Wirksamkeit von Antidepressiva, wird in diesem Buch nicht zurückgeschreckt: „Alle vorliegenden Metaanalysen legen nahe, dass die akute Wirksamkeit von Antidepressiva bei Depressionen allenfalls moderat sind. … unerwünschte Wirkungen, wie Störungen der Emotionalität und der Sexualität („iatrogene Komorbidität“) legen nahe, die Indikation für eine antidepressive Pharmakotherapie streng zu stellen und im Verlauf der Behandlung immer wieder zu überprüfen. (S. 17)
Gründer weiß, dass seine Argumente bei vielen seiner Kollegen nicht gut ankommen, er schreibt, sie würden ihm vorwerfen „das eigene Nest zu beschmutzen“ oder ihm vorwerfen, er habe sich vom „Saulus zum Paulus“ entwickelt. (S. 4). Wann sich sein Wandel vollzogen hat, ist schwer auszumachen. Noch im Jahr 2018 ging er kritischen Diskussionen aus dem Weg und sagte seine Teilnahme ab.
Heute fragt Gründer, ob viele Psychiater ihr persönliches Selbstverständnis – vor allem in der Abgrenzung zu Psychologen – darin sehen würden, Medikamente verschreiben zu dürfen, und aus dieser Sichtweise jede kritische Auseinandersetzung mit Medikamenten als „Angriff auf die Wurzeln des Faches“ betrachten. Für ihn persönlich, sei das keine Option. Er empfiehlt Selbstkritik zu üben: „Wir gewinnen [dadurch] an Glaubwürdigkeit.“ (S. 7)
Tatsächlich hat sich ein tiefgreifender Sinneswandel in Gründers psychiatrischem Selbstverständnis ereignet (dazu später mehr). Möglicherweise haben ihn private Erlebnisse zum Umdenken bewegt:
„Wenn heute eine 19-jährige Frau wegen Liebeskummer nach einer Trennung zu ihrem Hausarzt geht und nach 30 Minuten die Praxis mit einem Rezept über Venlafaxin und ein Benzodiazepin wieder verlässt (wie in meinem Bekanntenkreis geschehen), dann hat sich ein Kollege offenbar keine Gedanken darüber gemacht, dass auch die Therapie mit einem Antidepressivum ein gewichtiger Eingriff in die Hirnchemie ist, und das Venlafaxin eine der Substanzen ist, die am schwersten wieder abzusetzen ist. Hier wurden offenbar nicht Nutzen und Risiken gegeneinander abgewogen, und das wahrscheinlich nicht mal aus bösem Willen, sondern einfach aus Unkenntnis.“ (S. 4)
Es scheint ihn zu berühren, dass Kinder und Jugendliche in der heutigen Zeit häufig mit Medikamenten behandelt werden, die im Verdacht stehen, irreversible Entwicklungsstörungen zu verursachen. Ausführlich und schärfer als andere Pharmaka geht er das Antidepressivum Fluoxetin an, das als einziges SSRI-Antidepressivum eine Zulassung für die Behandlung von depressiven Kindern und Jugendlichen erhalten hat. Basierend auf pharmakologischen Daten, die von Tierexperimenten stammen, stellt er fest: „Insgesamt zeigen die verfügbaren Daten recht klar, dass zumindest Fluoxetin altersabhängige Auswirkungen auf das Verhalten hat. … Die Autoren kommen zu der klaren Schlussfolgerung, dass zumindest die Studien an Nagern nahelegen, dass SSRI mit großer Zurückhaltung bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden sollten (Olivier et al. 2011).“ (S. 17). Eine weitere Studie in der Fluoxetin heranwachsenden Schimpansen verabreicht wurde, bewertete er mit den folgenden Worten: „Die Studie ist von erheblicher Wirkung, weil sie zum ersten Mal bei Primaten zeigte, dass eine Behandlung mit einem SSRI in einem sich entwickelnden Gehirn langfristige und möglicherweise überdauernde Wirkungen haben kann.“ (S. 19).
Leider geht er nicht darauf ein, dass in den vergangenen zwei Jahren aufgrund der monatelangen Schulschließungen vermutlich mehr Kinder als jemals zuvor mit genau diesem antidepressiven Medikament behandelt wurden.
Natürlich ist Gründer kein Gegner von Medikamenten. Das war er noch nie. Er schreibt, vor allem Patienten mit Verfolgungswahn und Halluzinationen profitieren von einer medikamentösen Therapie, doch es gibt auch viele andere Patienten:
„Im Laufe meiner beruflichen Laufbahn sind mir Hunderte, vielleicht Tausende Patienten begegnet, bei denen die psychiatrische Erkrankung nach meiner Überzeugung nicht nur das Epiphänomen einer molekularen Fehlfunktion in ihren Gehirnen war, sondern der Ausdruck einer Lebenskrise. Manche meiner Patienten sprechen auch von einer „spirituellen Krise“. … In solchen Fällen kann die medikamentöse Therapie eine sinnvolle und von vielen Patienten als segensreich erlebte Maßnahme sein. Aber an einem gewissen Punkt muss man dann auch bereit sein zu überprüfen, ob die Maßnahme noch sinnvoll ist.“ (S. 4).
Dabei wäre die Entscheidung für „das Absetzen“ stets eine individuelle Entscheidung: „Solange wir Menschen nicht als deterministische Biomaschinen betrachten, deren Schicksal hundertprozentig durch ihre Hirnchemie determiniert ist, wird eine solche Entscheidung niemals eine klare Ja/Nein-Antwort haben. Hier sind zahlreiche Faktoren zu bedenken und in jedem individuellen Fall zu gewichten.“ Deshalb ist es wichtig, eine tragfähige therapeutische Beziehung herzustellen, denn „Wahrscheinlichkeitsaussagen ersetzen nicht eine echte Beziehung zwischen Menschen“.
Gründer zählt eine ganze Reihe an Problemen auf, die von Psychopharmaka verursacht werden können:
- Appetitsteigerungen und Gewichtszunahme.
- Anhaltende sexuelle Funktionsstörungen, die nach dem Absetzen einer antidepressiven Pharmakotherapie (Post SSRI Sexual Dysfunction, PSSD), über Monate oder Jahre fortbestehen können. Gründer ergänzt dazu: Diese Art der Störung muss seit einem Beschluss des europäischen Pharmakovigilanzausschusses im Jahr 2019 als Warnhinweis auf den Beipackzetteln sämtlicher SSRIs und SNRIs aufgeführt werden. – [Anmerkung PA: Diese Funktionsstörungen sind der deutlichste Hinweise dafür, dass unerwünschte Psychopharmaka-Wirkungen nicht an die Elimination von Metaboliten der Wirkstoffe gekoppelt sind. Wir haben es hier mit einer Wirkung zu tun, die noch Monate nach dem Zeitpunkt der letzten Einnahme anhält. Das bedeutet, es gibt ungeklärte Mechanismen, die aber nicht ignoriert werden dürfen, nur weil man sie noch nicht versteht.]
- Er beschreibt die emotionale Abstumpfung unter Antidepressiva: „Die wahrscheinlich wichtigste psychologische Veränderung unter einer Dauertherapie mit Antidepressiva ist wahrscheinlich das, was man im englischen Schrifttum als emotional blunting bezeichnet, emotionale Abstumpfung. … Die Autoren fanden eine signifikante Reduktion des emotionalen Erlebens der betroffenen Personen im Vergleich zu einer Gruppe gesunder Kontrollprobanden … hatten … weniger sexuelles Vergnügen … sorgten sich weniger um die Gefühle anderer … litten unter einem reduzierten Ausdruck ihrer Gefühle (Opbroek et al. 2002). Leider gibt es bis heute nur wenige systematische Studien zu verändertem Erlebniserleben unter Antidepressiva.“ (S. 21)
- Über eine Studie von Goodwin schreibt er: „Die Daten legen jedoch eindeutig nahe, dass auch nach Remission und der Depression emotionale Probleme im Sinne einer „Abstumpfung“ persistieren, die auf die Pharmakotherapie zurückgeführt müssen. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass »fast die Hälfte der depressiven Patienten mit Antidepressiva über emotionale Abstumpfung berichtet. Es scheint allen monoaminergen Antidepressiva gemeinsam zu sein« (Goodwin et al. 2017).“ (S. 23)
- Weitere häufig auftretende Nebenwirkungen einer dauerhaften Antidepressiva-Einnahme seien nach Read und Williams (die prozentuale Häufigkeit ist in der Klammer angegeben): „sich wie im Nebel oder distanziert führen (71%), nicht wie ich selbst fühlen (68%), sexuelle Schwierigkeiten (66%), Schläfrigkeit (63%) und Verringerung der positiven Gefühle (59%)“. (S. 22f)
- Gründer berichtet über Patienten, die unter leichten Depressionen leiden und nach der Behandlung mit Antidepressiva eine schwere Depression entwickeln. Er erklärt, solche Fälle wurden erstmals Daten von Psychiatern in den 1960er Jahren veröffentlicht.
- Er beschreibt eine„Verhaltenstoxizität von Psychopharmaka“. Hierfür verwendet er das „oppositional model of tolerance“ das ursprünglich von Paul Andrews entwickelt wurde. Wichtige Bausteine lieferte der italienische Psychiatrie Professor Giovanni Fava, der bereits 1994 vermutete, eine Langzeiteinnahme von Antidepressiva könnte eine Depression chronifizieren. Im aktuellen Modell von 2020 beschreibt Fava biologische Anpassungsvorgänge des Körpers, die nach dem Absetzen des Psychopharmakons aus dem Ruder laufen. Gründer schreibt: „Diese oppositionellen, gegen die Arzneimittelwirkung gerichteten biologischen Prozesse können den langfristigen Verlauf einer Erkrankung beeinflussen.“ (S. 7). Nach Ansicht von Fava können diese Phänomene akut bis sehr langfristig auftreten und „im Zweifelsfall irreversibel“ sein.
- Gründer beklagt zudem: „das Nichtansprechen auf eine Behandlung [gemeint ist eine antidepressive Therapie], die in der Vergangenheit erfolgreich zur Remission [Gesundung] einer Erkrankung geführt hat, ist klinisch ein oft zu beobachtendes Phänomen.“ Das sei keinesfalls trivial und führt weiter aus: „Wenn also das Nichtansprechen auf eine in der Vergangenheit wirksame Pharmakotherapie auch nur eine Minderheit der behandelten Patienten betrifft, so macht allein die Häufigkeit der Verschreibung von Antidepressiva das Phänomen zu einem von höchster klinischer Relevanz. Allein in Deutschland dürften jedes Jahr Zehntausende von Patienten betroffen sein.“ (S. 8)
- Gründer schreibt über den protrahierten Entzug: „Störungen, die erst sechs Wochen nach dem Absetzen des Antidepressivums auftreten, sistieren nur selten spontan. Oft sind sie so ausgeprägt, dass sie Patienten dazu zwingen, die Behandlung mit ihrer Medikation aufzunehmen. Wenn sie dies nicht tun, leiden sie oft Monate bis Jahre unter ihren Beschwerden.“ (S. 38)
- „Auch renommierte Wissenschaftler sehen die Datenlage gerade zur Erhaltungstherapie mit Antidepressiva zunehmend kritisch.“ (S. 14)
- Das Phänomen der Supersensitivität. Gründer schreibt, viele Patienten werden „mit zunehmender Dauer der Behandlung immer sensitiver gegenüber einem Absetzen der Medikation, weshalb das Rückfallrisiko mit der Dauer der Behandlung immer weiter [zunimmt].“ (S.49) Und ergänzt: „Tierexperimentelle Daten legen nahe, dass funktionelle Effekte einer Supersensitivität ein Jahr und länger nach Beenden einer antipsychotischen Medikation bestehen bleiben können (Yin et al. 2017).“ (S. 49)
- Medikamente wie Clozapin können nicht nur eine Supersensitivität verursachen, aus der Behandlung mit diesem Pharmakon kann sogar eine Supersensitivitätspsychose entstehen (Kapitel 3.5.2. Seite 66f.).
Gründers Ausführungen über Antidepressiva sind konträr zum Narrativ der Deutschen Depressionshilfe und der Depressionsliga. Diese Organisationen betonen stets: Antidepressiva sind hochwirksam, verändern die Persönlichkeit nicht und machen nicht abhängig. Es stellt sich die Frage, wie diese Organisationen mit Gründers Aussagen umgehen wollen. Ob sie die Kompetenz von Gründer bestreiten wollen?
Im Buch wird die zugrundeliegende Literatur zum Absetzen besprochen und es werden einige Tipps gegeben. Leider fällt das Kapitel, wie man Absetzwilligen hilft etwas knapp aus. Bei Antidepressiva ist beispielsweise nur ein Absetzweg beschrieben, der langjährige Konsumenten überfordern dürfte. Gewünscht hätte man sich eine Rubrik zu hilfreichen Medikamenten, die man Patienten im Entzug verschreiben könnte. Beispielsweise hatte Malcolm Lader vor vielen Jahren vorgeschlagen im Benzodiazepin Entzug einmalig Flumazenil zu geben.
Hilfreich wäre auch ein Hinweis auf die Absetzempfehlungen des Royal College of Psychiatrists in Großbritannien gewesen, die sogar in deutscher Sprache vorliegen (!). Hier erkennt man einen deutlichen Unterschied im Umgang mit Absetzphänomenen im Vergleich zur Situation in Deutschland.
Am Ende des Buches spricht Gründer zwei wichtige Themen an, die der aktuellen Psychiatrie große Schäden zufügen.
Auf der einen Seite ist das die Therapie von Menschen mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis. Gründer schreibt über die zugrundeliegende Philosophie erstaunlich selbstkritisch: „Solange unsere Philosophie ist (wie auch ich sie über lange Zeit vertreten haben), dass wir jeden Menschen auf eine Dauertherapie einstellen sollten, weil wir nicht wissen, wer die 20 % sind, die sie nicht brauchen, nehmen wir in Kauf, dass wir nicht wenigen Patienten mit unserer Intervention schaden.“ (S. 110)
Der zweite Kritikpunkt betrifft das blinde Vertrauen auf Kurzzeitstudien und das Ausblenden von Patientenstimmen, die eine Langzeitmedikation ganz anders erleben. Seiner Ansicht nach, verschließen viele Therapeuten ihre ganz Augen fest vor offensichtlichen Gewissheiten:
„Auf jede Substanz, die neuronale Funktionen beeinflusst, reagiert das Gehirn mit adaptiven Veränderungen. … Es ist naiv zu glauben, dass ein Gehirn, das einer dieser Substanzen plötzlich nicht mehr ausgesetzt ist, das gleiche ist, wie vor der Exposition. Je länger die Exposition andauert, desto ausgeprägter werden die Anpassungen der Hirnchemie an diese Exposition sein. Schließt man sich jedoch einmal dieser Erkenntnis an, muss das Konsequenzen für unser Handeln haben.“ (S. 105)
Bislang scheint es jedoch nur wenige Psychiater zu geben, die ähnlich denken wie der Buchautor. Gründer schreibt, „dass viele Patienten immer noch auf Unverständnis – bis hin zu Ablehnung stoßen, wenn sie ihre Therapeuten auf Entzugssymptome beim Absetzen hinweisen. Das gilt besonders bei Antidepressiva.“ (S. 105)
Er rät seinen Kollegen, wenn Patienten über Symptome berichten: „ihre Beschwerden ernst [zu] nehmen und die Möglichkeit [zu] zulassen, dass eine Komplikation durch eine therapeutische Intervention entstanden ist, die wir möglicherweise sogar selbst irgendwann initiiert haben.“ (S. 106)
Das sind starke Worte von einem Mann, der das Fach Psychiatrie lehrt. Man darf gespannt sein, ob auch andere Psychiater zugeben, sich geirrt zu haben und ob die Psychiatrie dadurch genug Ballast abwerfen kann, um sich unter „Einbezug von Patientenstimmen“ (S.110) und „naturalistischen Langzeitstudien“ hin zu „personalisierten Therapieangeboten“ erneuern kann.
Bis es soweit ist, wird sicher noch ein langer Weg zu gehen sein. Gründer schreibt, dafür müssten ehrlichere Studien erstellt und ausgewertet werden. Aktuell würden nahezu sämtliche Aussagen über die Wirkung von Medikamenten auf Kurzzeitstudien basieren, die gar nicht berücksichtigen, dass die Medikamente nach 12 oder 24 Monaten oder mehreren Jahren eine ganz andere Wirkung entfalten, als nach sechs bis zwölf Wochen.
„Würde man Daten zu Entzugssyndromen nicht nur bei Patienten erheben, die lediglich drei oder vielleicht sechs Monate mit einem neuen Antidepressivum behandelt wurden, sondern über zwölf bis 24 Monate, so käme man bei der Bewertung der Substanz vielleicht zu einer ganz anderen Einschätzung von Nutzen und Risiken der Behandlung. Dazu gehört dann aber eben auch, dass man die Patientenperspektive viel enger in die Nutzenbewertung einbezieht.“ (S. 111)
Er kritisiert: Die fehlende Patientenperspektive führt in der Psychiatrie zu zahlreichen ärztlichen Fehlbehandlungen. Als Beispiel nennt er die häufig beobachtete Abhängigkeit nach einer Daueranwendung der beiden Antidepressiva Paroxetin und Venlafaxin:
„Wenn eine kontinuierliche Bewertung – gerade auch unter Konsultation von Patienten und deren Verbänden – stattfinden würde, hätten wahrscheinlich schon wenige Jahre nach deren Einführung in die Gruppe der Antidepressiva Paroxetin und Venlafaxin eine Herabstufung im Vergleich zu anderen, neueren Antidepressiva erfahren. Das aber hätte vorausgesetzt, dass man Patienten anhört und deren Erfahrungen ernst nimmt. Das hat leider in der Vergangenheit zu wenig stattgefunden und ist weiter verbesserungswürdig.“ (S. 111)
Am besten ist Gründer, wenn er Studien, die für kurzzeitige Marketing-Zwecke erstellt wurden, kritisch überprüft. Beispielsweise schrieben einige Forscher, Antidepressiva würden typische Demenzproteine reduzieren und spekulierten, deshalb könne die Einnahme von Antidepressiva das Demenzrisiko reduzieren. Hier harkt er nach und erklärt: „Da sich die Verschreibung von Antidepressiva in praktisch allen Industrienationen in den letzten 20 Jahren etwa verdoppelt hat, müsste sich eine protektive Wirkung einer antidepressiven Pharmakotherapie auf die Inzidenz der Alzheimer Krankheit auswirken, … , Studien die diesen Zusammenhang untersucht haben, bestätigen dies jedoch nicht. Sie deuten eher an, dass der Gebrauch von Antidepressiva mit einem erhöhten Demenzrisiko assoziiert ist. Dabei scheinen trizyklische Antidepressiva das Risiko stärker zu erhöhen als SSRI (Wang et al. 2018).
Manchmal ist Gründer etwas zu enzyklopädisch, indem er dem Leser jedes Wissen, das er gefunden hat, präsentiert. Das irritiert, wenn er nur wenige Seiten zuvor, eine Warnung vor genau diesem Medikament ausgesprochen hat (zum Beispiel Fluoxetin in Punkt 2.6.3. in Verbindung mit 2.6.1). In solchen Fällen wäre eine Streichung die sinnvollere Option gewesen.
Sehr fundiert wirkt der Abschnitt über die Abhängigkeit und das Absetzen von Benzodiazepinen. Hier kann er auf systematische Erkenntnisse zurückgreifen, die vor allem von den britischen Psychiatern Malcolm Lader und Heather Ashton erstellt wurden. An dieser Stelle ist auch die britische Forschungsförderung zu nennen, die diese Studien förderte und damit die Behandlung vieler Patienten verbesserte. Am Ende des Kapitels zieht Gründer das wichtige Fazit: „Die beste Methode zur Behandlung einer Benzodiazepinabhängigkeit ist die Vermeidung ihrer Entstehung.“ (S. 93). Leider erkennt er nicht, dass dies der Schlüsselsatz für das gesamte Buch ist und genau deshalb bei jeder psychopharmakologischen Substanz eine Dauertherapie streng hinterfragt werden muss.
Ein interessanter Aspekt des Buches ist, dass Gründer aufführt: viele Vermutungen über die Ursache von Absetzphänomene bestehen schon sehr lange, wurden aber nie überprüft. Beispielsweise gibt es bereits seit 1983 die Vermutung, dass beim Antidepressiva-Entzug eine überschießende Aktivität von cholinergen Neuronen vorliegt. Eine solche Vermutung könnte man pharmakologisch sehr einfach testen, in dem man absetzenden Patienten Biperiden oder Atropin verordnet und dazu eine doppelt verblindete Studie erstellt. Das hätte zum Beispiel im Rahmen der Absetzstudie der Charité gemacht werden können. Doch es zeigt sich, dass solche einfachen Versuche auf der gesamten Welt nie durchgeführt worden. Gründer schreibt: „Diese Strategie wurde jedoch nicht systematisch untersucht.“ (S. 43). Warum eigentlich nicht?
Früh dran ist Gründer mit seinen Thesen zur Erneuerung der Psychiatrie nicht. Der deutsche Psychiater Volkmar Aderhold hat bereits 2008 auf Tagungen der deutschen Psychiatervereinigung DGPPN Probleme der Neuroleptika benannt und Argumente für das Absetzen aufgeführt. Das führte zu Konflikten. Heute hat Gründer dazugelernt. In Abwandlung eines bekannten FW Bernstein Zitats könnte man über ihn schreiben: Die schärfsten Kritiker der Elche werden später selber welche.
Doch lieber spät dran sein, als den Schuss gar nicht gehört zu haben. Im Sinne des Gorbatschow zugeschriebenen Ausspruchs: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Möchte man den paternalistischen Psychiatern, die noch immer auf ihren Lehrbüchern gestützt am Schreibtisch sitzen und jede kritische Patientenstimme ausblenden, zurufen: Kommt mit, sonst seid ihr die Letzten und müsst das Licht ausmachen.
Gerhard Gründer: Psychopharmaka absetzen? Warum, wann und wie?
Urban & Fischer Verlag/ Elsevier GmbH
128 Seiten
29,00 €
ISBN: 9783437235856
Ich weiß nicht ob das hier hingehört, aber ich frage mich grade, da ich in einer Kinder und Jugendpsychiatrie war, in der sämtliche Medikamente gegeben wurden, ob das überhaupt zulässig war. Da ich nicht in der Kinder sondern Jugendgruppe war, weiß ich nicht ob es bei den kleinen genauso war, aber bei den Jugendlichen waren sämtliche Medikamente im Einsatz. In der Regel bekamen sie auch nicht nur ein Medikament sondern gleich mehrere.