FAZ Rezension „Unglück auf Rezept“ vom 10.02.2017

FAZ Kritik Unglück auf Rezept

Dr. Leutgeb schreibt in der FAZ vom 10.02.2017 unter anderem: „Lesenswert ist zudem die breit dargelegte Kritik an den Machenschaften im Rahmen der Zulassung und Vermarktung dieser Substanzen. Die Autoren schildern anschaulich die Aufdeckung vieler Skandale durch investigative Journalisten, die zu längst veröffentlichten Entschädigungsurteilen führten.

FAZ Kritik Unglück auf Rezept

Das Ressort Sachbuch der FAZ schreibt: „Antidepressiva werden allzu oft eingesetzt ohne ausreichende Bemühungen, die Diagnose abzusichern, ohne umfassende Aufklärung, nicht selten mit zu hohen Einstiegsdosen, vor allem aber ohne die gerade am Therapiebeginn unbedingt notwendige engmaschige Begleitung.“

Der Psychiater Dr. Dr. Ulrich Leutgeb hat für die FAZ „Unglück auf Rezept“ rezensiert. Die Kritik ist in der FAZ vom 10.02.2017 erschienen.

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Tagebuch und Yoga reichen nicht aus

Die Heilpraktiker Peter und Sabine Ansari kritisieren die Verschreibungspraxis von Antidepressiva scharf.
Aber die Folgen einer Bagatellisierung sind unabsehbar.
Von Dr. Dr. Ulrich Leutgeb FAZ 10.02.2017

Ich kann mich zu nichts mehr aufraffen, auf nichts mehr konzentrieren, über nichts mehr freuen. Einschlafen geht, das erlöst mich – einfach weg sein! Aber viel zu früh wach ich wieder auf, sofort beherrschen mich furchtbare Angst und negative Gedanken.“ So oder ähnlich eröffnen depressive Patienten das Gespräch beim Psychiater. Nach Schilderung ihrer Krankheits- und Lebensgeschichte und vor seinem Therapievorschlag muss der Arzt klären, ob auch eine Suizidabsicht besteht.

Betroffene, die sich dem Heilpraktiker- Ehepaar Ansari oder deren Internetblog „Depression-Heute“ anvertrauten, berichten, dass solche Gespräche beim Facharzt immer nur rund zehn Minuten gedauert hätten, was nicht nur enttäuschend, sondern auch letztlich nicht lege artis ist. Dann bekamen sie ohne ausreichende Aufklärung ein Rezept fast immer über ein „modernes“ SSRI-Antidepressivum, damit sind die sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer gemeint.

Zwar stellte sich auch bei den Betroffenen, deren Geschichte die Autoren schildern, nach einigen Wochen unter diesen SSRI meist eine Besserung der Depression ein. Aber dann, wenn sie nach ein oder mehr Jahren das Antidepressivum mit seinen als verheerend dargestellten Nebenwirkungen wieder loswerden wollen, kommt es zum eigentlichen „Unglück auf Rezept“, so Buchtitel und steile These des Ehepaares Ansari. Nun litten die Patienten unter „Entzugssymptomen“, die ungefähr so gravierend waren wie die Beschwerden, für deren Linderung das Rezept ursprünglich ausgestellt worden war. Die Autoren schließen daraus auf ein Abhängigkeitspotential der SSRI, das dem von Diazepam, einem besser unter dem Handelsnamen Valium bekannten Beruhigungsmittel, kaum nachstehe. Dass Antidepressiva abhängig machten, sei nur noch nicht so bekannt.

In der Tat: Auch der Rezensent kennt keine der Entzugsmartyrien, wie sie im Buch beschrieben werden, obwohl er seit fast fünfundzwanzíg Jahren als spezialisierter Psychiater bevorzugt Patienten mit Depressionen behandelt. Nach dem Weglassen des letzten Restes eines SSRI können auch nach einem langfristigen, schrittweisen Absetzen solcher Medikamente noch für etliche Tage Symptome wie Schwindel, Kopfschmerzen oder innere Unruhe auftreten. Sehr selten dauern diese Beschwerden über Wochen an. Dass sie jedoch erst mit einer Verzögerung von bis zu einem Jahr nach dem Absetzen auftreten können, wie in dem Buch behauptet, widerspricht klar der medizinischen Praxis und der wissenschaftlichen Definition von Entzug. Es handelt sich dann vielmehr um einen Rückfall oder um eine ganz andere Erkrankung. Diese unzulässige Vermengung führt den ratsuchenden Leser in die Irre und lässt auf fehlende klinische Erfahrung der Autoren schließen.

Aber trotz solcher Überspitzungen ist ihre Kritik in einer Hinsicht berechtigt: Antidepressiva werden allzu oft eingesetzt ohne ausreichende Bemühungen, die Diagnose abzusichern, ohne umfassende Aufklärung, nicht selten mit zu hohen Einstiegsdosen, vor allem aber ohne die gerade am Therapiebeginn unbedingt notwendige engmaschige Begleitung.

Lesenswert ist zudem die breit dargelegte Kritik an den Machenschaften im Rahmen der Zulassung und Vermarktung dieser Substanzen. Die Autoren schildern anschaulich die Aufdeckung vieler Skandale durch investigative Journalisten, die zu längst veröffentlichten Entschädigungsurteilen führten. Ihr Fazit: Vertuschte wie publik gemachte Suizide lasteten von Anbeginn an auf den SSRI. Schlimmer noch – im Zeitraum von 1990, dem Beginn der „massenhaften“ SSRI-Verschreibung, bis 2010 nahmen die Suizide in den Industrieländern sogar noch zu.

Diese Korrelation, und auch die Zunahme depressionsbedingter Frühberentungen und Krankschreibungen, deuten die Autoren jedoch fälschlich kausal, als Beleg für die Gefährlichkeit, mindestens aber die Unwirksamkeit speziell der SSRI und der Antidepressiva allgemein. Faktoren wie die erheblichen sozialen Veränderungen in dieser Zeit oder die Zunahme schwerer Krankheiten mit dem Älterwerden der Bevölkerung, einschließlich Depressionen, bleiben unerwähnt. Sie ignorieren beispielsweise die Tatsache, dass die gegenüber der Bundesrepublik anderthalbfach höhere Suizidrate in der ehemaligen DDR nach der Wende, also just in der Hochzeit der SSRI, kontinuierlich gesunken ist.

Wie geschickt die Pharmakonzerne die längst widerlegte Serotoninmangeltheorie der Depression für das Marketing der SSRI in Stellung brachten und die Zusammenschau der Argumente gegen diese Theorie ist hingegen für Laien wie Experten lesenswert. Die Folge des so entstandenen „Serotonin-Hype“ ist, dass die Wirksamkeit der SSRI bei schwereren Depressionen noch immer überschätzt wird. Analysen wie die der angesehenen Cochrane Collaboration, die alten wie neuen Antidepressiva eine über Placebo hinausgehende Wirkung in der Primärversorgung bescheinigt, unterschlagen die Autoren jedoch. Dagegen werden die Analysen von bekannten Antidepressiva- Kritikern, die diesen Medikamenten eine Eigenwirkung weitgehend absprechen, ausführlich dargestellt.

Bei einem so typischen wie häufigen Beschwerdebild wie anfangs geschildert, schlägt ein erfahrener Psychiater eher ein Antidepressivum aus einer anderen Substanzklasse vor und eben kein SSRI. Und was schlagen stattdessen die Autoren am Ende des Buches vor? Außer Psychotherapie noch Bewegung, Massagen, Kräuterextrakte, Tagebuchschreiben, Religion, Meditation und Yoga. Alle diese Maßnahmen mögen Bausteine zur Verhinderung eines Rückfalls sein, aber sie lindern kaum das Leiden in der Akutphase einer Depression. Letztlich machen die Autoren, wie gut auch immer ihr Ansatz gemeint sein mag, den gleichen Fehler wie viele andere. Sie bagatellisieren ein Leiden, das sich über viele Monate erstrecken kann, das nicht nur den Patienten, sondern auch die Angehörigen zutiefst belastet und immer noch lebensgefährlich ist.

Ulrich Leutgeb

Peter und Sabine Ansari: „Unglück auf Rezept“. Die Antidepressiva-Lüge und ihre Folgen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016. 300 S., br. , 16,95 €.

 

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