Meilensteine von einem Rebellen der Psychiatrie
Humanistische Antipsychiatrie von Peter Lehmann – Texte aus 45 Jahren
Von Peter Ansari
Es gibt nur wenige Menschen, über die man schreiben kann, sie haben der Medizin weltweit eine neue Facette hinzugefügt. Peter Lehmann ist einer dieser Revolutionäre. Vor fast vierzig Jahren veröffentlichte er mit „Der chemische Knebel – Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen“ das erste Buch, das sich kritisch mit der Medikamentenvergabe in der Psychiatrie auseinandersetzte. Zwar gab es schon zuvor Artikel und Diskussionen, doch er war der erste, der die Thematik umfassend bearbeitete und in einer Monographie aufzeigte, wie schädlich die hochgelobten Medikamente sein können. In seinem Buch „Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern“, dem weltweit ersten Buch zu diesem Thema, beschrieb er 1998, wie schwierig die Befreiung von einer Dauermedikation sein kann und wie existenziell sie für Betroffene ist, die ein Leben frei von medikamentöser Bevormundung führen wollen.
Jetzt hat Lehmann ein Resümee gezogen. „Humanistische Antipsychiatrie bedeutet, sich zu engagieren für die Organisierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen und Problemen und für die Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechts- und Selbsthilfegruppen sowie mit unterstützenden Expertinnen und Experten.“ Eine ziemliche gute Selbstbeschreibung.

Im Untertitel steckt das große Zeitfenster: „Texte aus 45 Jahren“. Es ist Lehmanns zehntes deutschsprachiges Buch. Manche fragen vermutlich, warum sie so olle Texte lesen sollen. Doch damit tun sie dem Werk unrecht. Zum einen befinden sich auch unveröffentlichte sowie erst kürzlich publizierte Texte darin, und andererseits sind viele der zuvor veröffentlichten Texte untergegangen oder anderswo kaum auffindbar, was vieles betrifft, das vor der Digitalisierungswelle von 2004 erschienen ist. Das Buch erinnert auch an viele wichtige Menschen, die häufig Wegbegleiter waren und zu Veränderungen beigetragen haben.
Man erhält beim Lesen Einblicke in zahllose seiner Gedanken und Argumente, die noch immer aktuell sind und häufig innovativ wirken. Denn nicht nur Wein und Whiskey werden mit den Jahren besser; in guten alten Texten finden sich stets wertvolle Ideen und Ansätze, die in früheren Zeiten nicht realisiert werden konnten. Es sind Schätze, die hier sorgfältig ausgewählt und aufbereitet wurden.
Die frühesten Schriften von Lehmann stammen aus dem Jahr 1980, damals für die von ihm mitbegründete „Irren-Offensive e. V.“ in Berlin. Das war eine Selbsthilfeorganisation, die einiges Gute vorbereitete, sich jedoch später heillos zerstritt. Lehmanns frühestes Interview stammt aus dem Jahr 1981, damals geführt von Tina Stöckle, der späteren Namenspatronin des ersten und bisher einzigen deutschen Weglaufhauses in Berlin, der „Villa Stöckle“.
Die Beiträge speziell zum Weglaufhaus zeigen, wie Meilensteine anfangs aus einer kleinen Idee entstanden und im Laufe von Irrungen, Wirrungen, finanziellen Schwierigkeiten und einer äußerst langen Zeitspanne schließlich doch noch realisiert wurden. Ein besonders schöner Text ist die Laudatio, die Lehmann im Jahr 2004 anlässlich der Verleihung des Ingeborg-Drewitz-Preises für die Villa Stöckle hielt, die nach zähen Vorbereitungen im Jahr 1996 eröffnet wurde.
Es lohnt sich, Lehmanns Texte zu lesen, da man in der heutigen Zeit oft vergessen hat, dass ärztliche Meinungen oder Empfehlungen durchaus fehlerbehaftet sein können und es sehr vernünftig sein kann, diese in Frage zu stellen. Er erinnert an Fälle, bei denen einzelne Patienten gegen Psychiatrien klagten.
- Karl Wegelin erstritt 1994 mit Hilfe der Schweizer Organisation PSYCHEX (in deren Vorstand Lehmann aktiv ist), von der Stadt Zürich eine Entschädigung für psychiatrische Rechtsverletzungen in Höhe von insgesamt 130.000 Franken.
- Das Landgericht Marburg sprach 1995 dem psychiatriegeschädigten Klaus-Peter Löser insgesamt 500.000 DM Schmerzensgeld für psychiatrische Behandlungsschäden zu.
- Jim Gottstein gelang es 2007 in den USA, die Pharmafirma Eli Lilly wegen unterlassener Aufklärung über das Diabetes-Risiko des Neuroleptikums Zyprexa 2,6 Milliarden US-Dollar zur Beilegung zu zahlen.
Das sind einige der wichtigsten Fälle, die die Psychiatrie nachhaltig veränderten. Sie hatten Signalwirkungen auf andere Psychiatrien, die danach befürchten mussten, sich für willkürliche Behandlungen und Zwangsmaßnahmen vor Gericht verantworten zu müssen. Fortan konnte das nicht nur teuer werden, es konnte auch den Ruf und das Vertrauen der Institution beschädigen.

Obwohl Lehmann seit mehr als 45 Jahren für die Rechte von psychiatrischen Patienten kämpft, ist er noch lange nicht müde und nach wie vor auf bundesweiten und auch internationalen Tagungen unterwegs. Ich traf ihn zuletzt 2024 in Herford, wo ich Antidepressiva thematisierte und er die Menschenrechtsverletzungen durch strukturelle Vergabe von Psychopharmaka ohne die vorgeschriebene Aufklärung bzw. Falschinformation über Behandlungsrisiken.
Im Gegensatz zu Patientenvertretern und -vertreterinnen, die bereits seit Jahren nur noch am eigenen Status interessiert sind und schon lange das Interesse an der Sache verloren haben, ist Lehmann unbequem geblieben und hält seinen persönlichen Anspruch auf Durchsetzung von Menschenrechten und humanistisch orientierte Unterstützung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen aufrecht. Dies bezeichnet er zu Recht als sein Lebenswerk.
Aktuell ist Lehmann Patientenvertreter im obersten medizinischen Gremium der Bundesrepublik, dem Gemeinsamen Bundesausschuss.
Ich freue mich über die wichtige Zusammenfassung seiner Arbeit in seinem neuen, etwas persönlicheren Buch. Lieber Peter, ich wünsche dir alles Gute, Kraft und Nerven wie Drahtseil, bei deinem noch immer wichtigen Kampf für die Rechte und Therapieangebote von Psychiatriepatienten gegen den Koloss des etablierten medizinisch-psychiatrischen System.
381 Seiten, 6 Abbildungen. Berlin & Lancaster: Peter Lehmann Publishing 2025
Gedruckte Buchausgabe, ISBN 978-3-910546-24-0, € 24.90
PDF E-Book, ISBN 978-3-910546-25-7, € 19.99



Vielen Dank, Herr Ansari, für Ihre Rezension, die mir das Buch etwas näher gebracht und erschlossen hat. Werde zur Lesung nach Taunusstein kommen. LG, Stephan Frank