Großbritannien hilft bei Abhängigkeit von Antidepressiva

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Dr. Mark Horowitz ist Forscher und angehender Psychiater, der bereits viele Denkanstöße bewirkt hat (Verwendung des Fotos mit freundlicher Genehmigung von Mark Horowitz). Aktuell arbeitet er in einer Ambulanz, die Patienten betreut, die von Antidepressiva abhängig geworden sind. Diese Ambulanz wird vom staatlichen britischen Gesundheitssystem NICE finanziert.

Im Jahr 2019 veröffentlichte Horowitz eine Arbeit über das Absetzen von Antidepressiva in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet. Dabei gelang es ihm die Worte „Entzugs Symptome“ im Titel unterzubringen. Das war ein zuvor nicht für möglich gehaltener Angriff auf die bestehende Lehrmeinung, die besagt: Antidepressiva verursachen keine Abhängigkeit.

Die Veröffentlichung im The Lancet basierte nicht nur auf wissenschaftlichen Daten, sondern auch auf Horowitz Bereitschaft persönliche Erfahrungen beizusteuern. Er berichtete etwa 20 Jahre lang Antidepressiva (die längste Zeit Escitalopram) eingenommen zu haben und war beim Versuch die Tabletten abzusetzen in sehr schwierige Zustände geraten. Diese empfand er wesentlich schlimmer, als diejenige Situation wegen der er ursprünglich die Tabletten eingenommen hatte.

Eine seiner wichtigsten Aussagen damals: Die Betroffenen-Gruppen in den Online-Foren beschreiben das Phänomen der körperlichen Abhängigkeit von Antidepressiva richtig und die Lehrbuch Psychiatrie beschwindelt die Patienten.

In Deutschland hilft vor allem mein geschätzte Kollege Markus Hüfner vom Blog die Psychopharmakafalle die Gedanken von Horowitz zu verbreiten.

Er hat auf seiner Website Horowitz Methode über das hyperbolische Absetzen von SSRI-Antidepressiva übersetzt und stellt das Dokument kostenlos zum Download zur Verfügung. In dem Dokument befindet sich auch ein Anschreiben für Ärzte, Erklärungen von Fachbegriffen und eine Liste mit Entzugssymptomen.

Zusätzlich hat Hüfner Horowitz Interview über die Gegensätze von Betroffenen-Literatur und Lehrbuch Psychiatrie-Literatur übersetzt.

Zur Zeit betreut Horowitz in einer Ambulanz Patienten die nach einem sehr langsamen Schema ihre Antidepressiva absetzen. Er geht von mehrjährigen Betreuungen aus. Die Kosten dieser Behandlung werden vollständig vom nationalen britischen Gesundheitssystem übernommen.

Depression-Heute: Britische Patienten, die von Antidepressiva abhängig geworden sind, werden besser behandelt, als deutsche Patienten, die auf sich selbst gestellt bleiben. Zum einen wird das vorhandene Abhängigkeitspotenzial der Stoffe vom Dachverband der britischen Psychiater bestätigt (hier ist eine deutschsprachige Übersetzung) zum anderen existiert bereits seit vier Jahrzehnten ein kritischer Dialog mit der Pharmaindustrie.

Dieser begann bereits in den frühen 80ern, als das britische Gesundheitssystem die Arbeit der Ärzte Heather Ashton und Malcolm Lader unterstützte, die Patienten halfen ihre Valium- oder Benzodiazepin-Abhängigkeit zu überwinden. Damals entschieden die Chefs der Krankenkassen, dass sie der Gesundheit der Patienten verpflichtet sind, die das Gesundheitssystem bezahlen und dass sie den Informationen Pharmakonzernen nicht mehr blindlings vertrauen. Sie entschieden sich, Benzodiazepin-Entzug selber zu untersuchen.

Ashton leitete dafür von 1982 bis 1994 eine Klinik für Benzodiazepin-Patienten in Newcastle, die vom öffentlichen Gesundheitssystem finanziert wurde. Dort beobachtete sie die Verläufe und wertete die Daten aus. Viele wissenschaftliche Veröffentlichungen gingen daraus hervor und ein viel beachtetes Handbuch, wie der Benzodiazepin-Entzug funktionieren kann.

Die BBC widmete sich im Jahr 1987 in der Sendung Brass Tacks dem Thema Abhängigkeit von Benzodiazepinen.

BBC Dokumentation über die Abhängigkeit von Benzodiazepinen aus dem Jahr 1987

Auch im Fall der Abhängigkeit von Antidepressiva nimmt Großbritannien eine herausragende Rolle ein. Das Land unterstütze Mark Horowitz mit zwei Preisen der British Association of Psychopharmacology, zusätzlich wurde er aufgrund seiner Doktorarbeit ausgewählt eine vielbeachtete Vorlesung zu halten. Weitere Beispiele für einen offenen Umgang mit Kritikern sind natürlich David Healy, der bis zu seinem Wechsel nach Toronto seinen Lehrstuhl behielt, der Kinderpsychiater Sam Timimi, der Psychologie-Professor John Read und weitere Akteure. Das jüngste Beispiel für die Anerkennung von Menschen, die Patientenstimmen in die psychiatrische Diskussion einbringen, lieferte die Ernennung von Joanna Moncrieff im Jahr 2020 zur Professorin für kritische und soziale Psychiatrie am University College London.

In Deutschland geht man mit Medizinkritik anders um.

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6 Comments

  1. Man kann Peter Ansari und seiner Webseite mal wieder gar nicht dankbar genug sein für die hier erhaltenen Informationen. Auch für die Hinweise/Verlinkungen zu den Ausführungen bei Markus Hüfner und ebenso denen des britischen Royal College of Psychiatrists.
    Und ja: man könnte in die nächste Tischkante beißen ob der Zustände in Deutschland und insbesondere der Tatsache, dass Psychiater:innen hier auf öffentlichen Vorträgen völlig bedenkenlos weiter die Serotoninhypothese vertreten und den Segen der Antidepressiva preisen – gerade selbst wieder vor Ort erlebt!!
    Daher war dieser Essay hier jetzt auch für mich persönlich Labsal für die Seele. DANKE!

    1. Herzlichen Dank, lieber Jürgen. Ich stehe dem auch immer wieder ohnmächtig gegenüber. Ich habe mich auf meinem Infoportal auch intensiver mit der Rolle der sogenannten Selbsthilfeorganisationen für Menschen mit Depressionen auseinandergesetzt und sogar Stellungnahmen erhalten. Zu diesen Organisationen gehören die Stiftung Deutsche Depressionshilfe von Prof Ulrich Hegerl und in deren Stiftungsrat ein gewisser Eckart von Hirschhausen sitzt, den ich auch um eine Stellungnahme gebeten hatte, ohne Antwort, die Deutsche Depressionsliga deren Schirmherr der Comedian Torsten Sträter ist, der sich für die Entstigmatisierung von Antidepressiva einsetzen will und das Bündnis gegen Depression deren Schirmherr Harald Schmidt ist. Es gibt noch zahlreiche weitere „Promis“, die Werbung für diese Organisationen machen, die nicht aufklären und Antidepressiva empfehlen. Das hier die Pharmalobby ihre Finger im Spiel hat, ist wohl offensichtlich.

  2. Herzlichen Dank für die Erwähnung und Verlinkung zu den Beiträgen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie groß die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit im Entzug sein kann und das man nach allem greift, was helfen könnte! Sicher wird sich auch hier der ein oder die andere Hoffnung darüber machen, in die Ambulanz von Dr. Horowitz zu kommen. Ich weiß das, weil ich diese Hoffnung auch hatte. Leider ist das aber nur für britische Staatsbürger möglich.

    Das hyperbolische Absetzmodell ist im Grunde genommen nichts anderes, als die vielen Betroffenen bekannte Prozentmethode, die im US-Foren entwickelt wurde und sich als die bisher erfolgreichste und sanfteste Methode zum Reduzieren und Absetzen von Antidepressiva, Benzodiazepinen und Neuroleptika, erwiesen hat.

    Falls jemand diese Methode nicht kennt, ich habe sie hier beschrieben.

    https://die-psychopharmaka-falle.de/psychopharmaka-erfolgreich-reduzieren-und-absetzen-mit-der-10-methode

    Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig es ist sich an diese Methode beim reduzieren und absetzen von Antidepressiva, Benzodiazepine und Neuroleptika zu halten. Diese Methode gibt keine Garantie, das der Entzug gelingt und sie gibt auch keine Garantie, dass der Entzug sanft verläuft. Diese Methode erhöht aber die Wahrscheinlichkeit, das es so sein wird um ein Vielfaches.

    An dieser Stelle möchte ich auch davor warnen sich mit anderen Betroffenen zu vergleichen oder selbst anderen Betroffenen zu sagen, man könne ruhig auch schneller und in größeren Dosisschritten vorgehen, das hätte gut funktioniert. Bitte schließe niemals von Dir auf andere. Jedes Gehirn ist einzigartig, keines gleicht einem anderen und deshalb ist auch jeder Entzug einzigartig, keiner gleicht einem anderen.

    Für Benzodiazepine wird diese Absetzmethode schon lange sehr erfolgreich angewandt. Da sich Psychiater und Ärzte und auch die Selbsthilfeorganisationen schwer damit tun, zu sagen, dass Antidepressiva auch körperlich abhängig machen , weil der Suchtfaktor fehle und das verlangen nach immer höheren Dosen, ist dies nun eine weitere wissenschaftliche Bestätigung, dass auch Antidepressiva körperlich abhängig machen, auch wenn der Suchtfaktor fehlt.

    Ich bin neben meiner Tätigkeit als Blogger und Berater in Facebook-Absetzgruppen auch passives Mitglied in der DGSP (Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie), der Fachausschuss Psychopharmaka der DGSP hat schon vor längerer Zeit das Positionspapier „Annahmen und Fakten: Antidepressiva“ erstellt. Darin vergleicht man die allgemeinen Annahmen mit den wissenschaftlichen Fakten. Das Dokument kann hier kostenlos heruntergeladen werden, bitte auch die Ergänzung bzgl. langanhaltenden Entzugssymptomen berücksichtigen.

    https://www.dgsp-ev.de/psychopharmaka/antidepressiva.html

    Die DGSP hat ergänzend zum Positionspapier des FA Psychopharmaka „Annahmen und Fakten: Antidepressiva“ Forderungen formuliert, die sich an die Gesundheitspolitik, Krankenkassen sowie an die Leistungserbringer und ihre Fachverbände richten. Darin fordert man diese zu einem Umdenken auf. Es werden folgende Forderungen gestellt:

    1. Umfassende Information und Aufklärung z.b. über die geringe Wirksamkeit von Antidepressiva

    2. Die deutschen Behandlungsleitlinien müssen durch die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse ergänzt werden.

    3. PatientInnen benötigen beim Reduzieren und Absetzen von Antidepressiva ärztliche und psychotherapeutische Begleitung.

    4. PatientInnen müssen über nicht-medikamentöse Behandlungsverfahren aufgeklärt werden und diese sind den PatientInnen zugänglich zu machen.

    Zum Thema körperliche Abhängigkeit steht in dem Papier unter Punkt 3 „Antidepressiva verursachen keine Abhängigkeit“:

    »Wir wollen den alten Streit um die Begriffe Abhängigkeit und Entzug nicht weiter verfolgen. Es ist eindeutig, dass die Patienten körperliche Entzugserscheinungen beim Absetzen der Medikamente erleiden können. Hauptstreitpunkt der Debatte ist das nicht vorhandene drogensuchende Verhalten bei Nutzern von Antidepressiva. Ob dies eine Rechtfertigung für den Nichtgebrauch des Wortes Abhängigkeit darstellt, darf bezweifelt werden.«

    Die wissenschaftliche Arbeit von Dr. Taylor und Dr. Horowitz beweist nicht nur, dass auch Antidepressiva körperlich abhängig machen sondern bestätigt wissenschaftlich die in den Absetzforen empfohlene Prozentmethode als die erfolgreichste und sanfteste. Darüber hinaus gibt es konkrete Absetzpläne für die SSRI Citalopram, Fluoxetin, Paroxetin und Sertralin sowie das SNRI Venlafaxin.

    Diese wissenschaftliche Publikation ist auch aus einem anderen Grund besonders wichtig: Dr. Horowitz ist selbst Betroffener und versucht seit mehreren Jahren Venlafaxin zu reduzieren und abzusetzen. Seine wissenschaftliche Arbeit ist aus eigener Betroffenheit entstanden. Darüber spricht er in dem von depression-heute.de erwähnten Interview mit Mad in America, das ich übersetzt habe. Er spricht darin auch darüber, dass weder in seinem Medizinstudium noch in der Ausbildung zum Psychiater das Reduzieren und Absetzen von Antidepressiva thematisiert wurde. Dort gelten Antidepressiva als harmlose Medikamente, die gut wirken, nicht abhängig machen und wenig Nebenwirkungen haben.

    Diese wissenschaftliche Arbeit ist für uns Betroffene von unschätzbaren Wert. Ich hoffe sie wird in hoher Zahl an Ärzte, Therapeuten und Betroffene weitergegeben, denn das ist der ausdrückliche Wunsch von Dr. Horowitz: Es sollen so viele wie möglich davon erfahren, damit sich endlich etwas ändert und es nicht immer mehr von uns gibt.

    In England funktioniert das schon sehr gut. Im deutschsprachigen Raum hinken wir mal wieder weit hinterher.

    Aloha und Namasté

    Markus

  3. Hallo,
    es ist in Deutschland wirklich eine Vollkatastrophe. Ich kann das auch bestätigen.
    Jeder Arzt, egal ob Psychiater oder Hausarzt und leider muss ich sagen auch Therapeuten predigen vom Nutzen dieser Medikamente. Die Serotonin These wird immer noch herangenommen und es wird immer noch der Entzug abgestritten wie eh und je. Was ich schon alles erlebt habe mit Ärzten und Therapeuten. Ich könnte ganze Bände von Romanen füllen.
    Ich verstehe auch nicht warum sich weiterhin an veraltetes Wissen geklammert wird. Die Erde ist eine Scheibe in unserem Gesundheitssystem. Man merkt einfach dass das Patientenwohl nicht an erster Stelle steht. Ich habe dadurch das Vertrauen ins System verloren. Man wird regelrecht belogen und wenn Schwierigkeiten durch Nebenwirkungen und Entzug aufgetreten völlig alleine gelassen, schlimmer noch teilweise noch gedemütigt.

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