Dr. Wolf Müller, Interview
Interview mit Chefarzt a. D. und Psychiater Dr. Wolf Müller, der bislang drei pharmakritische Tagungen über Antidepressiva/Depressionen initiierte und sich für ein verändertes Behandlungskonzept psychiatrischer Patienten einsetzt.
Herr Dr. Müller, Sie sind seit über 40 Jahren Psychiater haben unzählige depressive Patienten behandelt, aber die modernen SSRIs haben Sie nie verschrieben?
Dr. Wolf Müller: Das ist richtig. Ich habe bereits im Jahr 1991 in der Fachzeitschrift „arznei-telegramm“ eine Warnung über die modernen SSRI-Antidepressiva gelesen (Quelle: Suizidgefahr? – Zu hoch dosiert?). Die Autoren beanstandeten darin eine häufig auftretende Suizidalität, gewalttätiges Verhalten und Millionenklagen von Angehörigen gegen die Herstellerfirma. Die Vermarktung der Medikamente basierte demnach auf fehlerhaften Angaben. Später stellte sich heraus, dass einige Pharmafirmen sogar Suizidversuche von Patienten systematisch unter dem Decknamen „emotionale Labilität“ versteckt hatten (Link). Es gab zudem Hinweise auf Herz- Kreislaufkomplikationen und Schwierigkeiten beim Absetzen. Angesichts dieser Risiken habe ich mich entschieden, diese Mittel gar nicht erst zu verordnen. Ähnlich ging es mir mit den sogenannten „atypischen Neuroleptika“. Hier habe ich lediglich ein paar Erfahrungen mit niedrig dosiertem Risperidon gesammelt, es aber nur selten verordnet.
Wie haben Sie stattdessen behandelt?
Dr. Wolf Müller: Als ich 1974 meine Facharztausbildung am Landeskrankenhaus Gütersloh begann, waren die gängigen Mittel Imipramin (Tofranil) und Maprotilin (Ludiomil). Später habe ich hauptsächlich Amitriptylin und Nortriptylin verschrieben. Nach dem Abklingen einer Depression haben wir die Medikamente immer rasch abgesetzt. Das war damals der Behandlungsstandard. In der Tagesklinik wurde ein umfangreiches Therapieprogramm angeboten. Musik und Tanz, autogenes Training, Schwimmen, Massagen, Spaziergänge, Ausflüge, Einzel- und Gruppengespräche, Reittherapie, Qi Gong und anderes. Ein wichtiger Bestandteil waren auch die Gespräche mit mir als Arzt. Darin habe ich immer darauf hingewiesen, dass eine Depression wieder abklingt und viel Wert auf die Vermittlung von Hoffnung gelegt.
Sehen Sie einen Unterschied in der Behandlungsmethode vor den 1990er Jahren und danach? Wie erklären Sie sich diesen?
Dr. Wolf Müller: Wenn ich einmal zurückblicke, stelle ich fest, dass sich ein großer Wandel in der medikamentösen Behandlung von depressiven Patienten ergeben hat. Dieser Wandel hat sich schleichend ergeben. Meiner Erinnerung zufolge, begann es im teilstationären und ambulanten Bereich. Dort wurden zunehmend SSRI-Medikamente verordnet und die trizyklischen Medikamente (Imipramin und Amitriptylin), sowie die tetrazyklischen Medikamente (Maprotilin) verschwanden fast vollständig. Es verbreitete sich auch zunehmend die Behauptung einer notwendigen medikamentösen Dauerbehandlung, die nicht meinen Erfahrungen entsprach. Hinzu kam sehr bald die Vernachlässigung von sozio- und psychotherapeutischen Ansätzen. Diese wurden durch „Psychoedukation“ ersetzt, bei der jedoch weniger der Umgang mit Depressionen thematisiert wurde, als vielmehr die „Erziehung“ zu einer dauerhaften medikamentösen Einnahme.
Die Hauptursache für den Wandel in der Behandlung von depressiven Patienten liegt meiner Ansicht nach in der massiv vorgetragenen Marketingstrategie der Pharmaindustrie, die behauptete, dass ein Serotonin-Mangel eine Depression verursacht, was von den Universitätspsychiatern unterstützt und weiterverbreitet wurde.
Hat sich Ihre Klientel in den Jahren verändert? Werden heute andere Patienten behandelt, als in „früheren Zeiten“?
Dr. Wolf Müller: Meine Klientel hat sich nicht verändert und auch meine Arbeitsweise ist dieselbe geblieben. Für mich steht am Beginn einer Behandlung immer die fachgerechte Diagnose an erster Stelle. Soweit ich es beobachten kann, wurde die Diagnostik allerdings nach und nach verwässert und aufgeweicht. Dadurch ist mittlerweile Trauer nicht mehr Trauer, Erschöpfung nicht mehr Erschöpfung, Verzweiflung nicht mehr Verzweiflung. Es gibt auch nicht mehr Hoffnungslosigkeit und Überforderung – alles ist nur noch Depression und soll, wenn man den Empfehlungen Glauben schenkt, mit SSRI-Medikamenten behandelt werden.
Viele nichtpsychiatrische ärztliche Fachgruppen, die natürlich diagnostisch unzureichend vorgebildet sind, beteiligen sich massenhaft an der Verordnung der Medikamente. Hier hat sich ein Sieg der Marketingstrategie ereignet, zu Lasten der notleidenden Patienten.
Über die Jahre hat sich dabei manches so tief in den Köpfen verfestigt, dass selbst massive Schädigungen oder der Tod von Kindern und Jugendlichen (Link) nicht bis zu den Verordnern durchgedrungen ist. Allerdings muss in diesem Zusammenhang auch auf die gezielte Falschinformationen hingewiesen werden, die auf ärztlichen Fortbildungen erfolgte und auch in der „Fachliteratur“ kritiklos abgedruckt wurde.
Ein weiterer Punkt, der für die Verbreitung der SSRI-Antidepressiva wichtig war, ist sicherlich die ständige Ausweiterung des Diagnosespektrums. Nach kurzer Zeit wurden die Mittel auch bei Angsterkrankungen und Bulimie sowie vielen weiteren Beschwerden verschrieben.
Im Nachhinein ist das kaum nachzuvollziehen, da die Serotonin-Theorie nie wissenschaftlich bestätigt wurde. Des Weiteren wurden die gravierenden Nebenwirkungen verschwiegen oder heruntergespielt. Die beängstigenden Fakten und Daten der SSRI-Antidepressiva sind seit mindestens Mitte der 90er Jahre bekannt und zugänglich. Eigentlich ist eine lebenslange ärztliche Fortbildung vom Gesetzgeber verpflichtend festgelegt worden. Aber das Beispiel Antidepressiva stellt die Qualität und Praxis der ärztlichen Fortbildung in Frage. Unklar ist zudem, weshalb Apotheker*innen keinen Alarm geschlagen haben? Liegt es auch hier am Profit beim Verkaufen?
Meinen Erfahrungen zufolge wird die Gefährlichkeit, insbesondere der SSRI-Antidepressiva, weitgehend unterschätzt. Wir sollten uns daher neben einer nationalen Aufklärung auch für eine internationale Vernetzung stark machen, schließlich werden die Substanzen auf der ganzen Welt vermarktet.
Welche Schritte unternehmen Sie, um eine Veränderung zu bewirken?
Dr. Wolf Müller: Ich spreche die Missstände in der Psychiatrie gezielt an, insbesondere die fahrlässige Behandlung mit Medikamenten. Das tue ich im Bekannten- und Freundeskreis, mit Verwandten, innerhalb der DGSP, IPPNW, heimischen Wohlfahrtsverbänden, als Ehrenämtler in der Flüchtlingshilfe, sowie mit Politikern und Verwaltungsfachkräften. Mich erschreckt dabei immer wieder die Unkenntnis und Gleichgültigkeit der Mitglieder im Gemeindepsychiatrischen Verbund des Kreises Herford, in dem ich wohne.
Und ich spreche diese Themen auch an, wenn ich als Referent für die sozialpsychiatrische Zusatzausbildung der Caritas in Paderborn und Köln aktiv bin. Zweimal habe ich in Graz/Österreich Vorträge zu der Thematik gehalten, sowie dreimal für den Verein „Psychomedizin“, an denen auch immer viele ärztliche Kolleg*innen aus Brasilien teilnehmen.
Seit drei Jahren organisieren Sie mit Ihrem Team einmal pro Jahr in Herford eine große Informationsveranstaltung über Antidepressiva und die Therapie von Depressionen. Was war der Anstoß für diese Veranstaltung?
Dr. Wolf Müller: Ende 2016 stellte sich bei mir Pessimismus bezüglich der Thematik ein, aber auch Ärger über die weit verbreitete Gedankenlosigkeit, Blindheit und Gehörlosigkeit in der Behandlung der meisten psychisch erkrankten Menschen. Ich hatte damals vor mich zurückzuziehen und dachte mir „Dann macht euren Mist doch alleine“, zu lange habe ich mir schon den Mund fusselig geredet. Und dann ist mir zum Jahreswechsel 2016/17 das Buch „Unglück auf Rezept“ von Mahinda und Peter Ansari empfohlen worden (Link). Das wirkte wie Wasser auf meiner Mühle. Ich konnte danach den Gedanken: „Wir müssen etwas unternehmen, wir können nicht in Gleichgültigkeit versinken“ nicht mehr wegschieben.
Im Gespräch mit fachlichen Weggefährten wurde kurze Zeit später die Idee einer Tagung in Herford geboren. Wir haben dann Kontakt zum Ehepaar Ansari aufgenommen, dass sofort seine Bereitschaft zum Mitmachen erklärte. Kurze Zeit später haben wir renommierte Fachleute gebeten, Referate zum Thema SSRI-Antidepressiva zu halten. Das fand große Resonanz in der DGSP und der WGSP. Ein wenig stolz bin ich, dass es mir sogar gelungen ist, den weltbekannten Psychiater David Healy (Link) für die Tagung zu gewinnen.
Bei Ihren Veranstaltungen sind auch stets viele Ärzte anwesend. Wie gelingt es Ihnen diese zum Besuch von kritischen Veranstaltungen zu bewegen?
Dr. Wolf Müller: Es war uns von vornherein wichtig, psychiatrisch tätige Ärzt*innen anzusprechen, schließlich verordnen diese sehr häufig die Medikamente. Ich habe deshalb vor den Tagungen bei unserer Ärztekammer Westfalen-Lippe einen Antrag auf Fortbildungspunkte gestellt, die uns unkompliziert zuerkannt wurden. Für die Tagungen im Jahr 2017, 2018 und 2019 konnten wir jeweils 8 bis 9 Fortbildungspunkte verteilen und auch für die Vortragsabende zu den Ausschleichstreifen (TaperingStrip.de) aus Maastricht im April 2019 (Link) konnten wir vier Fortbildungspunkte verteilen. Ich gehe davon aus, dass Fortbildungspunkte ein guter Anreiz für Kollegen sind, zu Veranstaltungen zu kommen. Am 08.04.2019 kamen acht Ärzt*innen, bei den Tagungen waren es bis zu zwanzig.
Welche Rückmeldungen haben Sie von den Tagungsteilnehmern erhalten?
Dr. Wolf Müller: Wir haben unsere Tagungen stets evaluiert und dabei einen großen Zuspruch erhalten. Jede Tagung hat bestimmte Fragen bei den Teilnehmern aufgeworfen, die wir zum Anlass für die nächste Tagung genommen haben. Ich glaube, dadurch ist es uns gelungen mit den Teilnehmern eine fruchtbare Diskussion zu führen.
In diesem Jahr bieten wir einen monatlichen trialogischen Gesprächskreis Psychiatrie in der VHS Herford an. Trialog bedeutet, dass ein gleichberechtigtes Gespräch zwischen Betroffenen, Angehörigen und psychiatrischen Fachleuten stattfindet. Der erste Termin findet am 20. Februar 2020 statt. Dabei geht es um die Mündigkeit in der Psychiatrie (Link zur Anmeldung).
Vielen Dank für das Gespräch.
Der Psychiater Dr. Wolf Müller war über ein Jahrzehnt Chefarzt der Tageskliniken Bünde und Herford. Er ist Vorstandsmitglied des Herforder Vereins Die Klinke e. V., der eine Einrichtung für betreutes Wohnen, zwei Tagesstätten und einen Treffpunkt für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen betreibt. Er war sechs Jahre im Vorstand der Lebenshilfe Herford und 25 Jahre Vorstandsvorsitzender des Herforder DPWV-Vorstandes. Seit vielen Jahren ist er Mitglied im Verein „Mezis- mein Essen zahle ich selbst“. Mit einem kleinen Team organisiert er seit 2017 eine privat finanzierte Tagung, die sich mit Depressionen und der Anwendung von Antidepressiva beschäftigt (Link).
Interessenkonflikte: Bei Dr. Wolf Müller liegen keine sogenannten Interessenkonflikte vor, das heißt er lehnt Pharma-Sponsoring grundsätzlich ab.
VIELEN DANK für dieses wirklich großartige und aufklärerische Interview. Zeigt es doch den funda-mentalen Wechsel in der Psychiatrie der letzten 30 Jahre auf – in allen relevanten Bereichen! Also in der Theorienbildung (bspw. die fatale und längst als unzutreffend erwiesene Serotoninhypothese), der Diagnostik (mit ihrer grotesk anmutenden Aufweichung und Ausweitung!) und der Behandlung (mit nunmehr vor allem SSRI-Antidepressiva; und dies unter weitgehendem Verschweigen der Nebenwirkungen). In der Summe also die (leider erfolgreiche!) schleichende Gehirnwäsche der Ärzte und Psychiater, welche größtenteils die verinnerlichten Falschinformationen(!) heute als moderne Wissenschaft ausgeben.
Und ja, all das geht „zu Lasten der notleidenden Patienten“!!! Und erfolgt unter den offenbar schlafenden Augen von Behörden und unter Infiltration zahlreicher Berufsverbände, die ihren ärztlichen Grundauftrag des primum non nocere sträflich verraten haben. Eine gesundheitspolitische Katastrophe!!!
Hallo Herr Karres,
vielen Dank für die Rückmeldung.
Das „primum non nocere“ hat für Wolf Müller eine herausragende Bedeutung und war Name der ersten Tagung.
Beste Grüße
Peter Ansari