Psychiatrie in der Krise – Warum sind die Therapien so ineffizient?

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Die Psychiatrie steckt in einer tiefen Krise. Obwohl viele Milliarden zur Verfügung stehen, ist das Behandlungsergebnis nur enttäuschend. Anstelle einer Abnahme der Erkrankungen zeigt sich eine Verdoppelung der Krankheitstage durch psychische Erkrankungen.

Den Blickwinkel erweitern. Die Revolution wagen. Warum nicht Ziele für die Therapien vorgeben:

  • Möglichst wenige stationären Folge-Aufnahmen (nach der Erstbehandlung)
  • Möglichst viele Vermittlungen in den ersten Arbeitsmarkt
  • Erreichen von Symptomfreiheit (zwei und fünf Jahre nach Behandlungsbeginn)
  • Möglichst wenige Therapieabbrüche und natürlich
  • Eine möglichst hohe Lebensqualität der Betroffenen (z. B. über Lebensqualitäts-Fragebögen nach 2, 5, 7, 10 Jahren)
  • Möglichst wenige Fehltage im Arbeitsleben
  • Möglichst wenige Frühberentungen aufgrund psychischer Erkrankungen

Von 2000 auf 2015 stieg die Anzahl der durch psychische Erkrankungen bedingten Fehltage pro Arbeitnehmer von 6,3 auf 10,9 an. Die Kosten für die Volkswirtschaft betragen – ohne Behandlungskosten – 90 Milliarden Euro – mit steigender Tendenz. Jedes Jahr wird eine Zunahme der Plätze für betreutes Wohnen gefordert.

Eigentlich ist es gar nicht so schwer, die Ursache dieser Fehlentwicklung zu entdecken. Man muss nur bereit sein, nachzudenken und Fragen zu stellen, mit denen das gewünschte Resultat erreicht wird. Vermutlich wünschen sich sowohl Behandler, als auch Patienten eine möglichst lange symptomfreie Zeit und ein möglichst selbständiges Leben des (nur kurzzeitig erkrankten) Patienten.

Wie wird heute therapiert?

Ein Blick in die aktuellen Behandlungsleitlinien für psychische Erkrankungen zeigt, dass Medikamente als beste Therapiemethode bewertet und empfohlen werden. Nur bei besonders schweren Erkrankungen wird empfohlen, mit Psychotherapie zu kombinieren. Im Umkehrschluss führt dies dazu, dass etwa 90 Prozent der Menschen mit psychischen Beschwerden ausschließlich Medikamente als Therapie erhalten.

Und warum gelten Medikamente in den ärztlichen Leitlinien, als die beste Therapie? Weil Pharmafirmen erreicht haben, dass eine geringfügige Verbesserung der Patientenbefindlichkeit, die nach acht bis 12 Wochen per Fragebogen gemessen wird, als das wichtigste und einzige Behandlungziel dargestellt wird.

Ob der Effekt auch nach sechs Monaten auftritt oder nach einem Jahr – das haben die Pharmafirmen nicht gemessen. Denen muss man keinen Vorwurf machen, die wollen nur ihre Produkte (die Tabletten) verkaufen. Aber warum sind die Psychiater nicht an einer langfristigen Gesundheit ihrer Patienten interessiert? So etwas kann man in jeder Klinik – ohne viel Geld – messen. Man muss nur in die Aufnahmen schauen. Man kann auch Kliniken vergleichen und diejenigen Kliniken, die bessere Werte erzielen genauer untersuchen: Wie machen die das?

Eine weitere Möglichkeit sind qualitative Befragungen der Betroffenen. Wie bewerten die Patienten die Therapiemethode. Ändert sich dadurch ihr Quality of Life Index? Kommen sie damit über einen mittel- bis langfristigen Zeitraum wieder besser auf die Beine? Fühlen sie sich verstanden und angenommen und schöpfen daraus neuen Lebensmut?

Das wären wichtige Fragen, die auch gleichzeitig das Ziel der Behandlung vorgeben. Man müsste fragen: Werden Medikamente so häufig als Therapiemethode ausgewählt und empfohlen, weil sie das gewünschte Therapieergebnis am besten gewährleisten?

Die Antwortet lautet: Nein.

Tatsächlich erwartet solche Ergebnisse keiner der eine Empfehlung für ärztliche Therapien ausspricht. Das einzige, was diese Experten von einer Therapiemethode erwarten, mit der dann Millionen von Menschen behandelt werden ist, dass diese Methode in künstlichen, klinischen Versuchen ausprobiert wird

  • bei denen Mehrfacherkrankungen (Komorbiditäten, die bei bis zu 90 Prozent der Patienten in der wirklichen Welt auftreten) ausgeschlossen sind
  • in denen Menschen ausgeschlossen sind, die zusätzlich weitere Medikamente einnehmen (tatsächlich ist Polypharmazie in der Psychiatrie eher die Regel, als die Ausnahme)
  • bei denen ein Arzt nach unklaren Kriterien Patienten von der Testgruppe ausschließt, die eine Verschlimmerung der Erkrankung erleben oder an schweren Nebenwirkungen leiden
  • die nur sechs bis zwölf Wochen andauern, also eine Zeitspanne, in der sich keine Heilung der Erkrankung (bzw. Symptomfreiheit) eingestellt hat und keine Rückfallbeobachtung erfolgt ist
  • eine Zeitspanne umfasst hat, die so kurz ist, dass die Medikamente noch nicht ausgeschlichen sind
  • die nahezu ausschließlich von pharmazeutischen Unternehmen durchgeführt oder bezahlt werden

…. die Therapiemethode muss in diesen künstlichen Studien dann besser gewirkt haben, als ein Placebo. Das ergibt Evidenzgrad A.

Ist das toll? Nein, denn es führt zu der Zunahme von krankheitsbedingten Behandlungstagen.

Und warum? Weil die Entscheider immer noch glauben, dass man psychiatrische Erkrankungen getrennt vom Patienten behandeln kann und dafür in placebokontrollierten klinischen Studien eine Entscheidungsgrundlage erhält.  Die Realität zeigt jedoch, sobald man versucht, die dabei erhaltenen Ergebnisse umzusetzen – ändert sich nichts. Das Gesamtergebnis verschlechtert sich. Eigentlich weiß das jeder.

Also, warum hören wir nicht einfach damit auf und verändern die Spielregeln?

Wie wäre es, wenn wir die vielen unterschiedlichen Therapiemethoden an den Gegebenheiten der realen Welt überprüfen würden?

Jede Klinik verfügt über eigene Daten von Patienten. Viele Patienten wurden jahrelange beobachtet. Was hat ihnen geholfen und was haben sie selber gesagt, was für sie entscheidend war? Eine solche Auswertung könnte erste qualitative Hinweise liefern. Quantitative Hinweise würde man erhalten, wenn man ganze Regionen miteinander vergleicht und den Einfluss der Therapien auf die Arbeitsfähigkeit der aktuellen und ehemaligen psychiatrischen Patienten vergleicht. Natürlich müssten das Langzeitstudien sein. Alle Studien, die kürzer als sechs Monate liefen, müssten für die Neubewertung der Erkrankung ausgeschlossen werden. Man könnte in Bevölkerungskohorten den Beziehungsstatus und das soziale Umfeld der Patienten vergleichen. Man könnte das Ergebnis auch mit der Lebensweise und -erwartung der anderen Menschen in dieser Region vergleichen. So würden realistische Erwartungen entstehen.

Dann hätte man eine spannende Forschung vor sich.

Man könnte aufhören, auf die nächste Generation der angeblichen Wundermedikamente zu hoffen und würde dabei viele Millionen sparen.

Wir hätten gleichzeitig Revolution und Neuanfang vor uns.

Es ist Zeit für ein Umdenken. Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier?

Depression-Heute: In den Behandlungsleitlinien wird festgelegt, wie Ärzte Patienten therapieren. Diese Leitlinien werden von Wissenschaftlern erstellt, die glauben, dass es eine unbeeinflussbare Kontrollgruppe gibt. Dass sich jedoch innerhalb einer Kontrollgruppe ausschließlich Menschen befinden, die ebenfalls gesund werden wollen und sich auch darum bemühen, klammern sie aus. Das ganze System der Bewertung von Therapien auf der Basis von placebokontrollierten Versuchen basiert auf einem Denken aus der Physik, bei dem man davon ausgeht, dass jede Entwicklung auch umkehrbar ist. Dieser Ansatz ist für die Psychiatrie unbrauchbar. Das zeigt sich am deutlichsten in der Entwicklung der „Kontrollgruppe“. Eigentlich müsste diese unveränderbar sein, doch insbesondere bei Antidepressiva-Versuchen ist die Besserungsrate in der Kontrollgruppe (Placebogruppe) kontinuierlich angestiegen. Während die Besserungen in dieser Gruppe in den 80er Jahren noch bei 20 bis 30 Prozent lag, ist dieser Anteil in den späten 90ern und danach auf bis zu 60 Prozent angestiegen (Quelle). In der Physik würde ein solcher Umstand jedwede Diskussion sofort beenden: Der Kontrollwert verdreifacht sich – das kann nur heißen: Die Gleichung ist unbrauchbar. Aber in der Psychiatrie wird so getan, als wenn das gar nicht so wichtig wäre. … Vielleicht hat es ja auch noch keiner gemerkt … . Die Experten rechnen weiter am wirklichen Leben vorbei und geben ihre Empfehlungen. Die Folgen sind bekannt.

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