Antidepressiva sind wirksamer als Placebo – Na und?

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Derzeit geistert eine neue Studie über die Wirksamkeit von Antidepressiva durch die Medienlandschaft. Hauptautor ist der Italiener Andrea Cipriani, die Studie wird deshalb auch Cipriani-Studie genannt. Die Studie ist nicht so schlecht, wie viele andere Studien. Das liegt hauptsächlich an den Autoren.

Bemerkenswert ist beispielsweise Eric Turner, der sich intensiv mit Daten zu Antidepressiva beschäftigt hat und auch die anderen Autoren wie Ioannidis sind nicht die üblichen Verdächtigen, die bei jedem Interview den Dreiklang der Pharmaindustrie „haben keine Nebenwirkungen, bewirken keine Persönlichkeitsveränderungen und machen nicht abhängig“ anstimmen.

Aber ein „Knüller“ ist die Studie nicht. Und sie ist auch ganz gewiss nicht das Ende der Debatte „wirken Antidepressiva oder nicht“, denn dazu benötigen wir biochemische Daten, die in der Studie gar nicht überprüft wurden. Was würde überhaupt geprüft? Die Cipriani-Studie ist der folgenden Frage nachgegangen: Wirken Antidepressiva innerhalb von acht Wochen besser als Placebo?

In der Studie wurden Patienten mit schweren Depressionen verglichen, die entweder Antidepressiva oder ein Placebo erhalten hatten. Das Ergebnis: Menschen, die Antidepressiva erhielten, zeigten etwas günstigere Besserungen, als die Menschen die ein Placebo erhalten hatten. Der Effekt war vorhanden. Patienten, die Antidepressiva eingenommen hatten, ging es um 10 Prozent besser, bei einer Effektstärke von 0,3 Prozent (Link). Das ist keine große Sache. Bei einer solch geringen Effektstärke muss man neun Patienten mit einem Antidepressivum behandeln, damit es einem Patienten besser geht als unter Placebo. Doch das ist nicht berichtet worden. Übrigens: den stärksten Einflusss auf die Depression der Patienten hatte das alte Medikament Amitriptylin. Aber das wird nicht gerne verschrieben, denn das vertragen gar nicht so viele Patienten (häufig schwere Nebenwirkungen AMSP-Studie).

Für viele Menschen mag das interessant klingen. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass die Cipriani Studie für keinen Arzt eine therapeutisch relevante Aussage liefert. Dafür sind folgende Gründe verantwortlich:

  1. Die Studiendauer betrug nur acht Wochen. In dieser Zeit endete nicht die Depression der Patienten, sondern es zeigten sich lediglich „Besserungen“. Der therapeutische Wert von Besserung ist zweifelhaft. Die Patienten wollen und sollen durch ärztliches Handeln Symptomfreiheit erreichen. Dafür muss eine deutlich längere Studiendauer gewählt werden.
  2. Die Studie gibt dem Arzt keinen Hinweis über die bestmögliche Behandlung. Ein Arzt behandelt nicht mit Placebo. Daher stellt sich nicht die Frage: Placebo oder Antidepressiva. Vergleichbare Behandlungsmethoden wären: Antidepressiva oder Verhaltenstherapie oder Sport oder Massagen oder … . Das wurde jedoch nicht geprüft.
  3. Das Ergebnis: „Antidepressiva wirken bei schwer depressiven Patienten etwas besser als Placebo“, ist bereits seit der Kirsch Studie von 2002 bekannt. Der Effekt ist jedoch gering. Kirsch berechnete, dass sich 81 Prozent der Antidepressiva-Wirkung auf den Placeboeffekt zurückführen lassen. Eine umfangreiche Überprüfung, die von kritischen amerikanischen Psychiatern in Auftrag gegeben wurde, kam zu demselben Ergebnis (Fournier et al, 2010). Dabei muss immer daran erinnert werden: Dieses Ergebnis gilt nur für schwer depressive Patienten.
    Die allermeisten depressiven Patienten sind allerdings nicht schwer depressiv sondern leicht depressiv oder mittelschwer depressiv. Die wichtige Frage für eine ärztlichen Entscheidung muss daher lauten: Welchen Patienten bürde ich die teilweise sehr schweren Nebenwirkungen der Medikamente für eine geringfügig erhöhte „Besserung“ auf.
  4. Eine weitere wichtige ungeklärte Frage ist zudem: Was passiert nach acht Wochen? Sollen die Patienten die Tabletten dann weiterhin einnehmen?
  5. Eine weitere ungeklärte Frage ist: Was passiert nach 12 Wochen? Sind die Besserungswerte der Patienten in der Placebogruppe dann genau so hoch, wie in der Antidepressiva-Gruppe?
  6. Ungeklärt ist auch die Frage: In welcher Patientengruppe gibt es nach einem Jahr mehr „Rückfälle“?

Patienten wünschen sich eine langfristige Gesundheit und keine „leicht erhöhte“ Besserung in einem Zeitraum von acht Wochen. Wie dies erreicht werden kann, beantwortet die aktuelle Studie nicht. Sie hilft noch nicht einmal zu entscheiden, ob die „Kosten“ der zahlreichen Nebenwirkungen, die durch Antidepressiva verursacht werden, eine Therapie von schwer depressiven Patienten rechtfertigt. Dafür müsste der gesamte Behandlungsverlauf einer Depression beobachtet werden. Für Patienten wäre zudem die Einbeziehung von qualitativen Studien über die Lebensqualität hilfreich.

Bereits seit längerem ist bekannt, dass leicht und mittelschwer erkrankte, häufig sogar schwer depressive Patienten nicht von einer Behandlung mit Antidepressiva profitieren. Hier wäre es interessant gewesen, die Behandlung mit Antidepressiva mit dem Behandlungsergebnis von anderen Therapien zu vergleichen. Das ist jedoch nicht geschehen.

Die Cipriani-Studie ist daher weder ein Durchbruch, noch ist sie relevant für die ärztliche Entscheidung, ob ein depressiver Patient mit Antidepressiva oder einer Alternative behandelt werden sollte. Denn die Studie ist wieder einmal ein klassisches Beispiel dafür, dass Signifikanz mit Relevanz verwechselt wurde. Das heißt: Ja, das Ergebnis ist statistisch signifikant. Bei einer Patientengruppe, die groß genug ist, lässt sich ein nichtzufälliges Ergebnis beobachten. Aber der Effekt ist zu klein, als dass ein behandelnder Arzt am Krankenbett den Unterschied bemerken würde. Also noch einmal: der Effekt ist zu klein, um klinisch relevant zu sein.

Nachtrag: Die Forscher Hengartner und Plöderl haben die Studie entzaubert, in dem sie die Daten einer gründlichen Prüfung unterzogen haben (Link). Von einer „Überlegenheit“ kann danach nicht mehr die Rede sein. Ihre Daten zeigen: Man muss neun Patienten mit Antidepressiva behandeln, damit es einem Patienten besser geht, als wenn er ein Placebo genommen hätte.

Depression-Heute: Diesmal können wir uns ein kleines P. S. nicht verkneifen. Wir beantworten mit einem Bild die Frage: Wie sieht der Besserungsverlauf aus, wenn man 20 depressive Patienten mit Antidepressiva behandelt? Gibt es eine durchschnittliche Besserungslinie, die anzeigt, wie die meisten Patienten auf die Behandlung reagieren? Die Auflösung zeigt: Jeder Patient spricht unterschiedlich auf die Gabe eines Antidepressivums an. Es gibt keine Vorhersagewahrscheinlichkeit.

Viele reagieren gar nicht. Manche sehr schnell. Möglicherweise kamen Besucher, die die Patienten aus der Depression herausholten – oder andere Faktoren waren hilfreich. Sicher ist jedoch: Einen „durchschnittlichen Besserungsverlauf“ gibt es bei einer Depression nicht!

20 depressive Patienten reagieren auf dasselbe Antidepressivum

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