Warum in Deutschland nicht von Entzugs-Symptomen gesprochen wird

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Das Absetzsyndrom für Antidepressiva wurde im Dezember 1996 zum ersten Mal beschrieben. Depression-Heute erklärt, weshalb auch heute noch viele Psychiater im Zusammenhang mit vielen Psychopharmaka nicht von Entzug sprechen wollen und weshalb Patienten keine Hilfe beim Absetzen erhalten.

Viele Patienten sind überrascht, wenn Sie ihre Entzugssymptome beschreiben und von ihrem Arzt belehrt werden.

Arzt: „Es gibt keinen Entzug von Antidepressiva. Die machen nicht abhängig.“

Die Patienten verstehen nicht, warum sie nicht Probleme ansprechen dürfen, die die Medikamente bei ihnen verursacht haben.

Sie wundern sich. Woher will der Arzt wissen, was ich empfinde? Und woher kommt seine Sicherheit? Hat ihm das jemand vorgesagt?

Manchmal wird der Patient „nur“ korrigiert und darf von „Absetzsymptomen“ sprechen. In anderen Fällen wird ihm gedroht, dass er nicht weiter behandelt wird, wenn er weiterhin von Abhängigkeit und Sucht spricht.

In medizinischer Hinsicht macht das keinen Sinn. Entzugssymptome sind klar definiert als neuartige Symptome, die nicht zur Krankheit gehören und auch nicht im Beipackzettel des Medikaments als Nebenwirkung des Medikaments aufgeführt werden.

Entzugssymptome sind neuartige Symptome, die erst auftreten, nachdem das Medikament nicht mehr eingenommen wurde.

Man kennt dieses Phänomen von vielen Substanzen: Straßendrogen wie Heroin, Kokain, Crack, Amphetaminen (Speed, Crystal Meth) aber auch von Schlaf- und Beruhigungsmitteln wie Lorazepam, Valium und anderem Substanzen sowie von Nikotin aber vor allem vom Alkohol.

Das zuverlässigste Wissen über Entzugssymptome stammt aus der stationären Behandlung von Alkoholikern. Als ebenfalls gut erforscht gilt das Opioidentzugssyndrom.

Aber warum „darf“ ein Patient beim Absetzen dieser Substanzen von Entzug sprechen und bei Antidepressiva- und Neuroleptika-Abhängigkeit nur von Absetzsymptomen? Das ist für viele unverständlich, denn die zeitliche Abfolge ist schließlich dieselbe. Die neuartigen Symptome, die beim Patienten nach dem Absetzen aufgetreten sind, kannte er nicht von seiner Erkrankung und auch nicht als Nebenwirkung des Medikaments.

Die Symptome traten erstmals auf, als der Patient das Medikament weggelassen hat.

Wer medizinisch logisch denkt, müsste diese Symptome daher als „Entzugssymptome“ bezeichnen, das schlagen auch Fachleute, wie der italienische Psychologe und Psychiater Giovanni Fava vor.

Leider ist er einer der wenigen, die so klar ausdrücken, was sich genauso deutlich zeigt. Viele verstecken sich lieber hinter fadenscheinigen Argumenten. Demnach soll keine Sucht, noch nicht mal eine körperliche Abhängigkeit vorliegen, selbst wenn Patienten in schlimmste Zustände geraten, nur weil sie einmal vergessen haben das Medikament einzunehmen. – Gibt es eigentlich ein deutlicheres Zeichen dafür, dass hier eindeutig etwas nicht stimmt?

Stattdessen sprechen die meisten Fachleute lieber von Absetzsymptomen oder einem SSRI-Absetzsyndrom.

Es gibt unterschiedliche Gründe, weshalb viele Psychiater lieber von Absetzsymptomen, als von Entzugssymptomen sprechen:

  • Manche behandeln nur mit Medikamenten und fühlen sich deshalb persönlich angegriffen, wenn ein Patient an der dauerhaften Wirkung dieser Medikamente zweifelt. Solche Ärzte drohen einem kritischen Patienten jede Unterstützung einzustellen: „Wenn Sie die Medikamente nicht mehr nehmen wollen, dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.“
  • Andere wissen, wenn sie zulassen, dass von Entzugssymptomen gesprochen wird, dann könnte der Patient fragen, weshalb der Arzt es denn so weit hat kommen lassen und weshalb der Arzt den Patienten ohne Vorwarnung in die Abhängigkeit geschickt hat.
  • Wer von Entzugs-Symptomen spricht, ordnet Neuroleptika und Antidepressiva in dieselbe Medikamentenklasse ein, wie Benzodiazepine und Z-Substanzen. Das erzeugt natürlich auch Angst vor Schadensersatzforderungen und Klagen.
  • andere bemerken, dass sie über gar kein Wissen verfügen, wie sie dem Patienten helfen können von den Medikamenten loszukommen (siehe auch diesen Beitrag des Psychiaters Asmus Finzen)

Für den Patienten ist das Alles sehr deprimierend. Erst bekommt er ein Medikament verschrieben, das sein Problem nicht löst und wenn das Medikament dann zum Problem geworden ist, wird er alleine gelassen.

Er fragt sich: Also „Absetzsymptome“ sollen das sein. Aber was ist das? Und wer hat sich das überhaupt ausgedacht?

Diese Frage beantwortet Ihnen Depression-Heute gerne.

Im Rahmen unserer Recherchearbeit haben wir herausgefunden, wann der Begriff „Absetzsymptom“ für Antidepressiva erstmals für eine systematische Verbreitung eingesetzt wurde:

Die Firma Eli Lilly and Company lud im Jahr 1996 zu einer Konferenz ein und danach sprachen (fast) alle Psychiater von Absetzsymptomen und kaum einer mehr von Entzugssymptomen.

Am 17 Dezember 1996 lud die Firma Eli Lilly and Company ausgewählte, meinungsführende Psychiater (heute sagt man eher „Mietmäuler“) nach Phoenix, Arizona ein, zu einer Konferenz mit dem Namen: „SSRI Discontinuation Events“. Die versammelten Fachleute lauschten dort Vorträgen von Psychiatern, die für diese Vorträge fürstlich von der Firma Eli Lilly bezahlt wurden. Sie erfuhren: Nach der längeren Einnahme eines SSRI-Antidepressivums (gemeint war natürlich Prozac/Fluoxetin obwohl es vielfach um Fluvoxamin ging) könne es nach dem Absetzen zu schwierigen Symptomen bei Patienten kommen. Das seien allerdings auf gar keinen Fall Entzugssymptome (withdrawal symptoms), da sämtliche Antidepressiva keine Sucht erzeugen. Aber damit unbeeinflusste Menschen nicht auf die Idee kommen, von Entzugssymptomen zu sprechen, schlagen wir Ihnen heute den Begriff „Absetzsymptom“ vor (Discontinuation Syndrome). Verwenden Sie genau diesen Begriff, wenn Sie Ähnliches bei Ihren Patienten beobachten!

Für die weitere Verbreitung dieser Idee sorgte das wissenschaftliche Journal „Journal of Clinical Psychiatry“. Die Firma Eli Lilly zahlte dem Magazin ein vollständiges Zusatzmagazin, das mit der Ausgabe Nr. 58 im Jahr 1997 ausgeliefert wurde und in dem die Konferenzbeitrage der Tagung veröffentlicht wurden.

Die Autoren schreiben darin, sie führen den Begriff „Absetzsyndrom“ (Discontinuation Syndrome) auf den britischen Mediziner Malcolm Ladder zurück, der diesen Begriff im Jahr 1983 verwendete, als er über das Absetzen von Benzodiazepinen berichtete. – Depression-Heute empfindet dieses Argument als zynisch, denn Malcolm Ladder, hat sich in den frühen 80er Jahren sehr intensiv mit der Sucht beschäftigt, die von Benzodiazepinen verursacht wird. Seine Arbeit hat maßgeblich dazu beigetragen, das diese Substanzen als abhängigmachend eingestuft wurden (wodurch der Umsatz von Valium und Tavor/Trevilor gewaltig einbrach).

Genau dieses Schicksal sollte für den hauseigenen Milliardenseller, dem Antidepressivum Prozac der Firma Eli Lilly, vermieden werden. Die Konferenz war das Mittel der Wahl. Die Firmenmanager wussten, dass Worte Bilder erzeugen und deshalb entschieden sie: Unter keinen Umständen darf der Begriff „Entzug“ (withdrawal“) bei Antidepressiva verwendet werden. Aber da unbestreitbar immer häufiger entsprechende Probleme beim Absetzen auftreten würden, wollte man lieber einen „neuen“ Begriff in Umlauf bringen, der weniger problematisch erschien. Interessant ist vielleicht auch noch, wer diese neue Information in den Umlauf brachte. An erster Stelle kann sicherlich Alan F. Schatzberg genannt werden, der die Einleitung zu den Beiträgen schrieb und als Direktor der Universitätspsychiatrie in Stanford ein großes Renommee genoss, bis er im Jahr 2009 gezwungen wurde, seinen Rücktritt einzureichen (wegen undurchsichtiger Verbindungen zur Pharmaindustrie …).

Auf der Konferenz wurde damals das Absetzsyndrom (Discontinuation Syndrome) erschaffen, von einer Professorengruppe, die sich ganz ungeniert „Discontinuation Consensus Panel“ nannte. Als mögliche biologische Mechanismen wurden herunterregulierte Serotoninrezeptoren postuliert oder ein cholinerger Vorgang , was jedoch durch keine weitere Untersuchung belegt wurde. Doch der Plan ging auf, noch immer gelten Antidepressiva als nicht-abhängigmachende Substanzen und das, obwohl zunehmend mehr Forscher über die Schwierigkeiten der Patienten im Entzug schreiben.

Kritische Psychiater hätten von Anfang an den Braten riechen können. Sie hätten fragen können: Was ist denn der Unterschied zwischen Absetzsymptomen und Entzugssymptomen?

Depression-Heute: Ja, das hätte geschehen können. Aber es geschah nicht. Heute, 25 Jahre später, will noch immer niemand wahrhaben, dass es gar keinen Unterschied gibt.

Allerdings: Leider gibt es dennoch einen Unterschied. Wenn man den Begriff „Entzug“ auch für Patienten im Antidepressiva- oder Neuroleptika-Entzug anwenden dürfte, müssten diese Patienten auch Zugang zu therapeutischen Hilfen erhalten. Aber das ist bekanntlich nicht der Fall.

Patienten im Antidepressiva- oder Neuroleptika-Entzug werden alleine gelassen, da das medizinische System in Deutschland (der Gemeinsame Bundesausschuss) nicht anerkennen will, dass die Patienten von einer Sucht befreit werden müssen. Stattdessen wird behauptet, die Patienten stecken in einem Absetzprozess und nicht in einem Entzugsprozess. Und dadurch ändert sich für die Betroffenen alles. Es gibt keine Abrechnungsziffer für die Gesetzlichen Krankenkassen und somit keine Leistung und keine Hilfe für diese Menschen.

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