1957 – Als der Antidepressiva-Schwindel begann

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Berühmt werden

Manche Medikamente erreichten den Markt, weil die Patienten eine Wirkung bemerkten (Viagra). Andere Medikamente kamen in Umlauf, weil die klinischen Tests erfolgreich verliefen. Bei den Antidepressiva war alles ganz anders.

Berühmt werden

Vor 1957 konnte sich niemand vorstellen, dass es Medikamente gab, die gegen eine Depression wirkten. Eine Depression galt als individuelle Angelegenheit. Wie sollte da ein Medikament bei allen wirken? Es zeigte sich jedoch, dass Fakten für manche Forscher unbedeutend waren. Sie wollten berühmt werden und die Pharmafirmen witterten ein profitables Geschäft.

Antidepressiva wurden von Forschern erfunden, die genau dafür berühmt werden wollten.

Im April 1957 vereinbarten die Pharmamanager des Unternehmens Geigy (heute Novartis) in der Schweiz ihre Prüfsubstanz G22335 (das trizyklische Molekül Imipramin) als antidepressive Substanz zu vermarkten.

Der Beschluss war ein Schwindel, da bereits zu diesem Zeitpunkt interne Statistiken gezeigt hatten, dass die Substanz keine stabile Wirkung auf depressiv erkrankte Menschen hatte. Ursprünglich sollte das Mittel als Neuroleptikum vermarktet werden, jedoch zeigte es keine konkurrenzfähige Wirkung.

Daraufhin entstand in der Firma die Idee, dass Mittel auch bei depressiven Patienten zu testen. Es sollte geprüft werden, ob das Mittel eine anregende Wirkung hatte. Aber die Manager glaubten – trotz einer frühen positiven Rückmeldung – nicht, dass dieser Effekt häufig genug auftreten würde. Das Mittel war zuvor bereits an mehreren hundert Patienten getestet worden.

Die Ermutigung zur Lüge lieferte ein Zeitungsartikel in der Sonntagsausgabe der New York Times vom 7. April 1957. In dem Artikel wurde über ein anderes Medikament namens Marsilid berichtet, das den Angaben zufolge in den Vereinigten Staaten erfolgreich an depressiven Patienten getestet wurde.

Für die Pharmamananger lieferte der Artikel den Startschuss zur Vermarktung einer ungeliebten Testsubstanz. Obwohl sie wussten, dass ihr Medikament keine spezifisch eingrenzbare Wirkung hatte, erkannten sie, dass die Öffentlichkeit bereit war, an die Wirkung eines antidepressiven Medikaments zu glauben. Sie beschlossen, ihre Testsubstanz auf einer großen Tagung im September des Jahres 1957 zu präsentieren, doch zuvor sollte ein abschließender Test zeigen, ob das Medikament keine schwerwiegende Nebenwirkungen hatte. Vielleicht hatten sogar manche in der Firma die Hoffnung, dass sich doch noch eine erwünschte Wirkung zeigen könnte.

Mit den erneuten Tests wurde der Psychiater Roland Kuhn beauftragt, der bereits an den früheren Versuchen maßgeblich beteiligt war. Die Zeitspanne für die Tests war denkbar knapp. Innerhalb von kaum mehr als zwei Monaten sollten alle Versuche abgeschlossen sein. Die Auswertung der Statistiken erfolgte durch die Firma Geigy. Die Daten blieben unter Verschluss, da erneut viel zu selten eine Wirkung beobachtet wurde.

Roland Kuhn zeigte sich von den seltenen Besserungen unbeeinflusst. Er hatte die Vorstellung entwickelt, als Erfinder der ersten antidepressiven Substanz, weltberühmt zu werden. In der initialen Veröffentlichung beschrieb er die Heilung folgendermaßen:

„Die Wirkung … auf depressive Zustände tritt bei bestimmten Fällen schlagartig nach einer Behandlung von 2-3 Tagen ein und ist dann gleich voll ausgeprägt, so daß man sagen muß die ganze Depression sei verschwunden.“ (Kuhn 1957, S. 1136) [Anmerkung P. A.: Angesichts der Tatsache, dass in den Fünfzigern nur schwer depressive Patienten stationär aufgenommen wurden – erscheinen derartig rasche Besserungen … untypisch.]

Kuhn hätte über diese Sofortbesserungen nicht berichtet, wenn er ein seriöser Wissenschaftler gewesen wäre. Dann hätte er die Besserungen als statistische „Ausreisser“ einordnen müssen. Doch eine solide Berechnung und Einschätzung des Datenmaterials fehlt bei Kuhn und zeitlebens hat er auch keine Auszählung seiner Daten veröffentlicht. Stattdessen schreibt er an anderer Stelle in dem Artikel, dass nur bei 40 von 300 Patienten eine gute Besserung beobachtet wurde, das entspricht einer Wirkung bei 13 Prozent der Patienten. Jedoch wollte Kuhn als Entdecker des ersten Antidepressivums der Welt in die Geschichtsbücher eingehen. Also musste er kreativ sein und „erfand“ innerhalb der depressiven Patienten, eine Gruppe von Patienten, die an einer „vitalen Depression“ erkrankt waren.

Genau bei diesen Patienten sollte das Medikament bei 75 bis 80 Prozent der Patienten wirken. Das Problem war nur, dass kein Psychiater etwas mit der Definition „vitale Depression“ anfangen konnte. Kuhn behauptete, die „vitale Depression“ wäre eine Diagnose, die der Psychiater Kurt Schneider ausgesprochen hätte.

Aber auch das entsprach lediglich dem Wunsch von Kuhn und nicht den Tatsachen. Kurt Schneider, der zu diesem Zeitpunkt der berühmteste Depressionsforscher im deutschsprachigen Umfeld war, hatte 1931 zwischen der endogenen, der reaktiven und der exogenen Depression unterschieden. Im Jahr 1955 hatte er die „Untergrunddepression“ in sein Schema mit aufgenommen.

Als andere Forscher Kuhn auf die „vitale Depression“ ansprachen, antwortete er, dass die anderen Forscher nur geringe Fähigkeiten hätten, Depressionsformen zu unterscheiden, sonst würden sie bessere Ergebnisse mit dem Medikament erzielen. Doch auch nach Rücksprache und engerer Eingrenzung der Patienten (nur endogen Depressive ohne Agitiertheit) erreichten andere Forscher nur eine Ansprechrate (also keine Heilung sondern nur eine leichte Besserung) von maximal 60 Prozent.

Dies war bedeutend weniger, als bei der Elektrokrampfmethode, die bei 80 Prozent der Behandelten depressiven Patienten ohne Vorauswahl eine Wirkung zeigte. Andere Forscher veröffentlichten ihre Verwunderung über die hohe Wirksamkeit die Kuhn bei seinen Patienten beschrieb.

Der Schweizer Kuhn erscheint in der Retrospektive als Sonderling. Er besaß kein Charisma und war kein großer Redner, dennoch blieb er zeitlebens vom antidepressiven Effekt „seiner“ Substanz überzeugt. Es wäre dennoch falsch ihn als den Urheber des Schwindels zu bezeichnen, da er ein Überzeugungstäter war. Für Argumente war er nicht zugänglich und weigerte sich beharrlich Statistiken oder auch biochemische Wirkprinzipien anzuerkennen.

Die Urheber des Schwindels waren die verantwortlichen Pharmamanager von Geigy, allen voran Paul Schmidlin, der damalige pharmazeutische Direktor der Firma. Er beauftragte Kuhn die erneuten Tests mit depressiven Patienten durchzuführen und war in der Lage die Ergebnisse der Studie einzuschätzen. Auch bei dem zweiten Test zeigte sich so selten eine Wirkung, dass Schmidlin es nicht über das Herz brachte, das Medikament ein Antidepressivum zu nennen – obwohl Kuhn diese Bezeichnung häufig verwendete und das Medikament schließlich mit genau dieser Indikation auf den Markt kommen sollte.

Schmidlin erfand den Begriff „Thymolepticum“, dass bedeutet das Medikament soll das Gemüt erhellen, bzw aufweichen. Aber sein Begriff setzte sich nicht durch.

Das amerikanische Mittel Marsilid, auf dem der Zeitungsbericht beruhte, den die Pharmamanager von Geigy lasen, wurde ursprünglich von der Firma Roche ebenfalls nicht als Antidepressivum vermarktet, sondern als „Psychic Energizer“ also als Seelenkraftverstärker. Anders als bei dem Schweizer Mittel, ging der amerikanische Psychiater, Nathan Kline, der das Mittel bei psychiatrischen Patienten testete, von Beginn an nicht von einer spezifischen Wirkung auf Depressionen aus, sondern testete das Medikament auch bei Schizophrenen Patienten und empfahl gesunden Patienten das Mittel als „Seelenkraftverstärker“ einzunehmen.

Spätere Pressestimmen und Jahrestagungen der Psychiater veränderten das ursprünglich angedachte Wirkprinzip von Marsilid und machten aus dem Medikament ein „Antidepressivum“. Die Zulassung von Marsilid wurde im Jahr 1963 von der amerikanischen Arzneimittelbehörde aufgrund schwerer Nebenwirkungen zurückgenommen. Es wird Gegenstand eines weiteren Artikels sein, da es das erste MAO –Präparat war.

Der Niedergang des Marsilid ermöglichte den Aufstieg des Imipramin. Eine gute Wirkung wurde dem Medikament jedoch zu diesem frühen Zeitpunkt nicht bescheinigt. In einer frühen Übersichtsarbeit im Fachmagazin Nature wurde das Mittel im Jahr 1960 als weniger wirksam als der Elektrokrampf beschrieben, der Autor schrieb, dass es allerhöchstens bei leichten Depressionen hilfreich sein könnte.

Depression-Heute: Im Jahr 1957 wurde das erste Mal über ein Antidepressivum berichtet. Die Wirkung sollte demnach nach zwei bis drei Tagen „schlagartig“ einsetzen und eine Woche später war die „ganze Depression“ beendet. Ein solches Medikament wäre zweifellos ein Antidepressivum. Keine Frage. Selbst wenn das Medikament nur bei wenigen Depressiven eine solche Wirkung entfalten würde. Leider ist es keinem Forscher oder klinisch tätigen Psychiater nach dieser Veröffentlichung jemals wieder gelungen eine schwere Depression, die eine stationäre Aufnahme erforderte, nach einer Woche zu beenden.

Heutige „Antidepressiva“ heilen nicht, sondern erzielen geringfügige Besserungen. Diese Besserungen lassen sich noch nicht ein mal von einer Placebo-Medikation unterscheiden. Lediglich die Nebenwirkungen der Medikamente fallen schwerwiegender aus. Die geschichtlichen Daten zeigen, welche Wirkung die Psychiater von einem „Antidepressivum“ erwarteten. Es wird Zeit, dieses Etikett von der heute verfügbaren Substanzklasse zu entfernen.
Es gibt keine antidepressiven Medikamente.

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